Heidelberger Katechismus Frage ...
Den Heidelberger (anders) hören
Dieser Text regt zum eigenen (Weiter-)Denken an!
Ein Veranstaltungsvorschlag

Den Heidelberger Katechismus vortragen lassen und einmal (anders) hören – in Auszügen oder ganz. In Abwechslung vielleicht mit solistischen Musikstücken.
Dialogisch. Szenisch. Kommunikativ. Ohne viele Erklärungen. Denn dieser Text regt zum eigenen Denken an, berührt existentielle Fragen, weckt Widerspruch oder Zustimmung, fordert heraus!

Programmvorschläge, weitere Infos und Kontakte zu Schauspieler/inne/n über Aleida Siller, E-Mail: info@reformierter-bund.de



Frage 1

Predigt von D. h.c. Peter Bukowski, Wuppertal

"Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?"

Dass ich mit Leib und Seele
im Leben und im Sterben nicht mir,
sondern meinem getreuen Heiland
Jesus Christus gehöre. 
Er hat mit seinem teuren Blut
für alle meine Sünden vollkommen bezahlt
und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst;
und er bewahrt mich so,
dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel
kein Haar von meinem Haupt kann fallen,
ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. 
Darum macht er mich auch
durch seinen Heiligen Geist
des ewigen Lebens gewiss
und von Herzen willig und bereit,
ihm forthin zu leben. 
 

Liebe Gemeinde,

in vielen reformierten Gemeinden zierte die Frage 1 des HK über Zeiten hinweg die Konfirmationsurkunde. So auch in der Reformierten Gemeinde zu Elberfeld, in der ich 1978 mein ersten Pfarramt antrat. Bei Hausbesuchen zeigten mir gerade ältere Gemeindeglieder biswei-len mit einem gewissen Stolz ihre Urkunde – oft war dies aber auch gar nicht nötig, denn sie zierte hübsch gerahmt das Wohnzimmer, bisweilen hing sie auch im Elternschlafzimmer, an der Stelle, wo bei Lutherischen der Herr Jesus als guter Hirte mit dem Lämmchen auf der Schulter seinen Platz hatte. Ob Frage 1, die selbstverständlich auswendig zu lernen war, damaligen KonfirmandInnen mehr sagte als meiner Generation, kann man fragen. Aber ob in Einzelnen verständlich oder nicht, die Botschaft war klar: Über Deinem Leben soll der Trost stehen. Das ist für Dich das wichtigste und das ist das Beste, was Deine Gemeinde Dir für Deinen weiteren Weg mitgeben kann. Denn in der Tat: Jeder Mensch bedarf des Trostes, trostlos leben zu müssen – das ist etwas Furchtbares.
Der große reformierte Prediger Rudolf Bohren hat einmal geschrieben: „Ein Mensch braucht Trost. Der Säugling, schreiend in seiner Wiege – der Greis, im Sterben eine liebe Hand umklammernd: der zur Welt kommt und der aus dem Leben geht, beide brauchen Trost. Anfang und Ende lassen ahnen, dass das Trostbrauchen zum Menschsein überhaupt gehört. An jedem Lebenstag zwischen Geburt und Tod ist Trost vonnöten, ob einem dies bewusst wird oder nicht.“
In diesen Worten klingt noch etwas Wichtiges an: Trost meint mehr als Vertröstung. Trost ist Ermutigung, trösten tut mich das, was mir Halt und Beistand bietet, mir Hilfe, Schutz und Zuversicht gewährt. Der Wikipediaartikel „Trost“ illustriert das mit einem ergreifenden Foto. Es zeigt einen Soldaten und eine Frau in der zerstörten Landschaft, die der Hurrican „Ike“ im September 2008 hinterlassen hatte. Der Mann hat die Frau in seinen Armen regelrecht aufge-fangen und gibt ihr nun Halt, während sie in ihrer Verzweiflung das Gesicht an seiner Schulter verbirgt – eine Geste, die wir vielleicht aus unseren Kindertagen in Erinnerung haben, wenn uns etwas schlimmes zugestoßen war und wir uns dann in die Arme der Mutter oder des Vaters flüchteten.
Allerdings: So sehr für mich, seit ich denken kann, die Lebensnotwendigkeit von Trost nie in Zweifel stand, so fraglich war mir an verschiedenen Stellen die Antwort, die der Katechismus auf Frage 1 bietet. Ich kam erst mit der Zeit durch genaueres Hinhören und – vor allem – belehrt von Erfahrungen, die ich in der Gemeinde machte, zu größerer Klarheit. Von drei meiner Fragen und wie es damit weiter ging, will ich jetzt erzählen.

1.
Die Frage, die sich mir schon sehr früh stellte, machte sich an dem Wort „einziger“ fest. Jesus Christus – der einzige Trost. Ich war ein durchaus frommer Jugendlicher, fest eingebunden in der evangelischen Jugend; aber wenn ich ehrlich war: erleben tat ich das anders. Es gab viele unterschiedliche, durchaus wirksame Weisen von Trost. Wenn ich krank war, tröstete mich die Fürsorge der Eltern. Als ich in der 7. Klasse sitzen blieb, half mir am meisten die Tatsache, dass mich die neue Klasse freundlich aufnahm und ich schnell Anschluss fand. Und als meine erste große Liebe mit mir Schluss gemacht hatte, da trösteten mich die Kumpels in meiner Band. Und dann auch die Erfahrung, dass es auch noch andere Mädchen gab, für die ich bisher nur keinen Blick gehabt hatte ...
Als ich dann anfing, über meinen Glauben nachzudenken, machte mich dieses „einzige“ regelrecht sauer, denn es schlug in eine Kerbe, die mit einer besonderen Frömmigkeitsprägung in meiner Familie zu tun hatte. Wenn ich es kritisch auf den Punkt bringe: Bei uns wurde bisweilen – sicher in bester Absicht! – im Blick auf Gefühle und Erfahrungen fromm gelogen. „Du musst doch merken, dass das Essen nicht schmeckt, wenn Du vorher nicht gebetet hast!“ – hielt meine Großmutter mir vor. Aber ich schmeckte beim besten Willen keinen Unterschied – war ich also glaubensmäßig nicht in Ordnung? „Jesus ist doch hoffentlich Dein bester Freund!“ – aber ehrlich, den Michael, der mit mir Jahrelang durch Dick und Dünn ging, den hatte ich lieber. War das nicht ok? Und war es bei denen, die solches von mir verlangten, wirklich anders?
Befreiend war für mich dann die Entdeckung, dass ich Frage 1 offensichtlich nicht bis zum Ende bedacht hatte. Sie fragt ja nicht: Was ist Dein einziger Trost? Sondern: ... dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Eben erst in der Gemeinde eingeführt, schickte mich die Gemeindeschwester zu Herrn Löhr. Ich machte mich reichlich befangen und ängstlich auf den Weg, denn ich war vorgewarnt worden: Es gehe ihm ganz schlecht – Magenkrebs im Endstadium. Wie sollte ich – gesund, jung und unerfahren – ihn trösten! In der Tat erwartete mich ein Bild des Jammers: Da lag ein vom Tode gezeichneter Mann, an viele Schläuche angeschlossen, ernährt wurde er durch die Nase. Über seinem Krankenbett hingen Bilder von der Familie, aber eben auch eine Urkunde vom CVJM, in dem er zeitlebens aktiv war, und der Konfirmationsspruch mit Frage 1. Nach der Begrüßung und einigen reichlich ungeschickten Sätzen meinerseits, zeigte er mit seiner ausgemergelten Hand nach oben und sagte: Herr Pastor, ohne den da oben könnte ich das hier nicht aushalten. Am Ende des Besuches fühlte ich mich getröstet; Herr Löhr hatte mir von seinem Trost weitergegeben.
Und ich begriff: Von dem Trost redet der Heidelberger, der mir nicht nur in den Widerwärtigkeiten des Lebens Halt gibt, sondern der auch dem Tod etwas entgegen zu setzen hat, der auch im Sterben Halt bietet. Es ist der Trost des Auferstandenen der sagt: Ich lebe und ihr sollt auch leben. Der Trost dessen, der am Ende unserer Lebenszeit mit seiner Ewigkeit auf uns wartet. Und der deshalb Halt bietet, wenn der Tod mit seinen Vorboten in das Leben eindringt. Das können die anderen Tröstungen eben nicht, sie alle mögen ein Stück weit Halt bieten, aber vor dem letzten Ernstfall versagen sie. Deshalb dürfen sie aber gerade nicht abgewertet oder für uneigentlich erklärt werden. Wir sollen uns ihrer als Geschenke des einen Trösters freuen. Es sind Segnungen, die ihre eigene Würde haben. Die allerdings von dem einen Tröster auch heilsam begrenzt werden. Seien es Freundschaften oder Erfahrungen von Glück, Gesundheit oder ein gutes Auskommen, wir werden das alles umso mehr genießen können, als uns nichts davon letzten Halt bieten muss. Nur so bewahren wir uns und andere vor heilloser Überforderung und Enttäuschung.
Übrigens wurde mir in der Begegnung mit Herrn Löhr auch deutlich, wie die sehr steilen Aussagen über die Bewahrung (... dass ohne den Willen meines Vaters ...) verstanden werden können. Nicht im mechanistischen Sinne, als sei alles Schlimme in meinem Leben von Gott geschickt. Dass es ihm so elend ging, blieb auch für Herrn Löhr ein kaum zu ertragendes Rätsel. Aber doch hielt er sich an die Aussage: nichts von all dem vermag mich aus Gottes Hand zu reißen, der an meiner Seite bleibt und mir Seligkeit verspricht.

 

2.
Eine zweite Irritation löste bei mir – und da bin ich gewiss nicht allein – die Aussage aus: dass ich nicht mir, sondern Jesus Christus gehöre. Ich gehöre nicht mir? – Das klingt wie ein Angriff auf eigene Mündigkeit. Habe ich denn nicht ein Recht auf Selbstverantwortung, auf Autonomie? Und ist es nicht gerade ein erstrebenswertes Ziel, „ein eigener Mensch (zu) werden“? – so der Titel eines viel gelesenen Buches von Elisabeth Moltmann-Wendel?
Ich hatte einen längeren seelsorgerlichen Kontakt mit einer Dame, der es nach vielen vergeblichen Anläufen endlich gelungen war, ihren Alkoholismus zu überwinden. Was ihr schließich geholfen hatte war das Konzept der Anonymen Alkoholiker – es gilt weltweit als das erfolgversprechendste Therapiekonzept zur Heilung von Sucht (nicht nur Alkohol!). Einmal durfte ich an einem Treffen ihrer AA-Gruppe teilnehmen. Zu Beginn der Zusammenkunft werden jeweils die 12-Sritte verlesen, die den Weg aus der Sucht markieren. Die ersten, alles entscheidenden Schritte lauten:
1. Schritt: Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern konnten.
2. Schritt: Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.
3. Schritt: Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen.
Der Bezug auf das, was größer ist als ich, ist hier bewusst vage formuliert, denn es sollen nicht nur Christenmenschen einstimmen können. Andererseits kann ein/e Christ/in unschwer die allgemeine Aussage mit dem eigenen Glaubensinhalt füllen.
Was mir hier eindrücklich klar wurde und sich mir in meiner eigenen Therapieausbildung immer wieder bestätigt hat: Ich komme gerade nicht dann zu mir, wenn ich nur mir gehöre und damit letztendlich auf mich allein gestellt bliebe. Ich finde gerade dann zu mir, wenn ich mich an den halten kann, der es gut mit mir meint und der, wenn ich es gar nicht gut mit mir meine, in mir für mich eintritt – als heilsame Stimme gegen all’ die bösen Einflüsterungen, die mich klein und krank machen. Als innere Kraftquelle gegen alles, was mich niederdrückt.
„Ich gehöre“ – das will also verstanden sein, wie Liebende sich versprechen, einander zu gehören. Will meinen: Es hat sich der mit mir verbunden, der mir treu ist, auch und gerade dann, wenn ich mir untreu werde. Es hat sich der mit mir verbunden, der mein Heil und meine Heilung will, auch und gerade dann, wenn es in mir zerrissen und heillos aussieht. So hat es jene Dame aus meiner Gemeinde erlebt: Sich in ihrer Sucht an den zu halten, der größer ist als sie und stärker als alles, was sie in sich gefangen hält, führte aus der Abhängigkeit in die Freiheit. Paulus würde sagen: In die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.

3.
Das führt zur dritten Frage, die mir als 68er (der hier in Berlin bei Helmut Gollwitzer, Friedel Marquard und anderen für die politische, ja, revolutionäre Dimension des Evangeliums sensibilisiert wurde) besonders wichtig war: Setzt die Frage 1, die nach „meinem“ Trost fragt, nicht allzu individualistisch an? Bleibt´s hier im besten Falle nicht im privat-seelsorgerlichen Klein-Klein?
Eine machtvolle Gegenerfahrung war die öffentliche Abschlusskundgebung des Reformierten Weltbundes in Debrecen (Ostungarn) 1997. Hier verpflichteten sich in einer sehr politischen Kundgebung Christen aus 240 Kirchen weltweit in unmissverständlicher Weise, für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit einzutreten. (Debrecen war ein Meilenstein auf dem Weg, der später zum Bekenntnis von Accra geführt hat.) Jeder Abschnitt der Kundgebung wurde mit einen Satz eingeleitet, den die ganze Versammlung mitsprach: We are not our ownwir gehören nicht uns selbst. Da ist er wieder, jener Satz, den wir eben schon einmal bedachten, nun aber in einer anderen Zuspitzung: Dass wir nicht uns, sondern Christus gehören hat in Frage 1 ja eben auch diese Pointe: Wir gehören dem, der uns in seiner Lebenshingabe aus aller Gewalt des Teufels erlöst. Weil wir mit ihm im Bunde sind, dürfen wir vor den Mächten der Gewalt und der Gier, der Ausbeutung und der Zerstörung und was es sonst an Teufeleien gibt, nicht die Waffen strecken. Die Welt ist veränderbar – so wahr der Tod am Ostermorgen das Nachsehen hatte.
Noch einmal Gemeindebesuch. Bei einer 80-jährigen. Auch bei ihr hängt der Konfirmations-spruch mit Frage 1. Ihr Name: Ida Schade. Fräulein (darauf legte sie Wert!) Schade war als junge Frau die erste Sekretärin der von der Bekennenden Kirche gegründeten Kirchlichen Hochschule zu Wuppertal. Diese wurde gleich am Tag ihrer Gründung von den Nazis verboten. Die Vorlesungen fanden geheim in Wohnzimmern von Presbytern statt. Fräulein Schades Aufgabe war es unter anderen: Den Studierenden heimlich die ständig wechselnden Treff-punkte mitzuteilen, Akten zu verstecken – alles höchst gefährliche Arbeiten. Ständig war ihr die Gestapo im Nacken. Einmal wäre sie fast aufgeflogen: Sie hatte die Liste mit den Treffpunkten der kommenden Woche in ihrer Handtasche und sieht einen bekannten Gestapomann ihr entgegen kommen. Rasch öffnet sie die Handtasche, tut als müsse sie sich die Nase put-zen, zieht aber mit dem Taschentuch den gefährlichen Zettel mit heraus, steckt ihn zusammengeknüllt in den Mund und schluckt ihn hinunter. „Das hat schrecklich geschmeckt“, bemerkt sie trocken. „Aber hatten Sie denn keine Angst?“ frage ich zurück. Und Sie: „Doch, aber der liebe Gott war doch stärker als die.“
Liebe Schwestern und Brüder. Wo immer auf der Welt Christenmenschen dem Unrecht etwas entgegensetzen, als mutiges Zeugnis, als solidarische Tat, als Eintreten für andere, da leben sie von dieser ermutigenden Hoffnung: Man kann etwas machen, denn unser Herr ist stärker als die Herrn und Mächte dieser Welt. Denen gehören wir nicht. Wir gehören dem, der uns zutraut und befähigt, diese Welt zu verändern.
In der Sprache des Heidelberger: Er macht uns willig und bereit, ihm forthin zu leben. Zu diesem Schlusssatz hat bei unserer Feier zum Heidelbergerjubiläum Gerd Theissen ein eindrucksvolles Bild gezeichnet. Bei Lutheranern gehören die 10 Gebote in der Diele aufgehangen: als Spiegel unserer Verfehlungen, in den wir blicken müssen, bevor wir näher hinzutreten dürfen. Bei Reformierten hängen sie in der guten Stube: Wie ein Meisterbrief, der festhält, wozu wir befähigt sind.
Der einzige Trost im Leben und im Sterben ist die Hoffnung für unsere geschundene Welt. 
Amen.

Predigt gehalten am 13. Oktober 2013 im Rahmen einer Predigtreihe zu Frage 1 aus dem Heidelberger Katechismus in der Französischen Friedrichsstadtkirche Berlin.