Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1519 - 1580)
Catherine, Baronin Willoughby de Eresbury (1519-1580) war in erster Ehe mit dem Herzog von Suffolk, Charles Brandon verheiratet. Unter Edward VI. wurde sie überzeugt evangelisch. Sie war befreundet mit Reformatoren wie Martin Bucer und Johannes a Lasco, während diese in England weilten. Als Maria Tudor den Thron nach Edward VI. bestieg und den Katholizismus in England wiedereinführte, flüchtete sie mit ihrem zweiten Gatten, Richard Bertie, und ihrer Tochter nach Wesel. Von dort ging die Reise nach Weinheim (Pfalz) und weiter nach Litauen, dank der Fürsprache Johannes a Lascos, der für sie beim polnischen König eintrat. Nach der Thronbesteigung Elizabeths I. kehrte sie mit ihrem Mann und zwei Kindern nach England zurück. Sie unterstützte bis zu ihrem Tod puritanische Pfarrer.
1. Eine katholische Kindheit und erste Ehe
2. Evangelische Witwe
3. Eine neue Familie. Flucht
4. Puritanerin in England
5. Würdigung
6. Die Herzogin von Suffolk in der Kunst
Anhang / Literatur
1. Eine katholische Kindheit und erste Ehe
Catherine Willoughby wurde 1519 geboren in einer Ehe zwischen einem adeligen Engländer, William Willoughby, Baron Willoughby de Eresby, und Maria de Salinas, einer spanischen Hofdame der Königin Katharina von Aragon. Die Eheschließung wurde wohlwollend von der königlichen Familie begleitet, Heinrich VIII. nannte eine seiner Kriegsschiffe „Mary Willoughby“ und er schenkte dem Ehepaar Ländereien. Die kleine Catherine verlor früh (1526) ihren Vater, und da sie eine sehr reiche Erbin war – in der Familie Willoughby besaßen auch Frauen das Erbrecht – wurde sie Mündel der Krone. Die Vormundschaft wurde dann wie üblich weiterverkauft, und so wurde die kleine Catherine Mündel des Charles Brandon, Herzog von Suffolk, der damals mit der Schwester des Königs, Mary Tudor, verheiratet war (Richardson). Wenn nicht in London, wohnte das Paar auf dem Gut Westhorpe in Suffolk, und Catherine wurde mit deren fast gleichaltrigen Töchtern Frances – die Mutter von Jane Grey – und Eleanor, und mit dem Sohn Henry, erzogen.
Am 24. Juni 1533 starb Mary Tudor nach längerer Krankheit. Catherine Willoughby war vermutlich bis dahin dem Sohn des Hauses als Braut angedacht, aber der Witwer Charles Brandon heiratete sie selbst im September 1533. Catherine war mit 14 Jahren gerade heiratsfähig, während ihr „Verlobter“ nur zehn Jahre alt war und damit noch zu jung für eine Eheschließung. Charles Brandon hatte gute Gründe sich die Hand Catherines zu sichern:
Charles Brandon hatte in der Ehe mit Mary Tudor Einnahmen von Ländereien sowohl in England als auch in Frankreich. Mary Tudor war in erster Ehe kurz - drei Monate lang - mit Ludwig XII. von Frankreich vermählt gewesen. Nach dessen Tod ging sie eine Liebesehe mit Charles Brandon ein. Deswegen hatte sie Lehen in Frankreich und England, die jedoch nach ihrem Tod an die Krone zurückfielen. Catherine Willoughby dagegen besaß Ländereien in Lincolnshire, welche es Charles Brandon möglich machten, sich dort einen großen zusammenhängenden Gutsbesitz zu beschaffen (Gunn).
1535 und 1537 brachte sie zwei Jungen zur Welt, Henry und Charles. Brandons Sohn Henry aus der ersten Ehe war 1534 gestorben, und es war üblich, nachgeborene Kinder nach ihren toten Geschwistern zu nennen.
Catherine war gut katholisch erzogen. Ihre Mutter war nach ihrer Ehe immer noch der Königin Catherine von Aragon eng verbunden. Als diese in Ungnade fiel, musste Charles Brandon die für ihn unangenehme Aufgabe erfüllen, ihr mitzuteilen, dass ihr Hofstaat gekürzt und ihre Bediensteten entlassen wurden. Sie wurde in die Provinz verbannt, und durfte nur mit Erlaubnis des Königs Besuch empfangen. Als es sich herumsprach, dass sie sehr krank sei, erkämpfte sich Maria de Salinas, Lady Willoughby, den Zutritt zu ihrem Schlafgemach. Wenige Tage später starb die Königin in ihren Armen. Sie wurde in der Kathedrale von Peterborough begraben, und im Trauerzug ging Catherine Brandon (Read 40f).
Als Magnat in Lincolnshire bekam Brandon 1536 die Aufgabe, die Aufstände in Lincolnshire in Verbindung mit dem nördlichen Aufstand gegen die Krone, die „Pilgrimage of Grace“ genannt, niederzuschlagen. Dies tat er schnell und effektiv und wurde dafür mit dem Schloss Tattershall und mehreren Kirchengütern belohnt. Die folgenden Jahre verbrachten er und seine Familie auf Schloss Tattershall. Brandon war 35 Jahre älter als seine Frau, aber die Ehe schien glücklich. 1539 war Catherine unter den vornehmen Frauen, die Anne von Kleve in England empfingen (Read 45f). Als Heinrich VIII. 1541 nach York reiste, um den schottischen König zu treffen, besuchte er die Brandons auf dem Gut Catherines, Grimsthorpe. Das war eine große Ehre, und Brandon ließ das Schloss umbauen, um den Majestät würdig empfangen zu können. Später war Catherine Brandon mit Catherine Parr befreundet. Sie war unter den sehr wenigen Hochzeitsgästen bei der Vermählung Catherine Parrs mit Heinrich VIII. im Jahr 1543.
Charles Brandon war zu Ruhm und Ehre gekommen, weil er ein Freund und Kumpel Heinrichs VIII. war. Wenn er religiöse Überzeugungen hatte, hielt er sie verborgen, und folgte den Anweisungen des Königs (Gunn). Unter seinen Kaplänen und Hauslehrern waren Männer, die zum neuen evangelischen Glauben neigten, aber es ist unsicher, ob Charles Brandon das überhaupt bemerkte. Es kann sein, dass Catherine durch sie die neue Lehre kennenlernte. Als ihr Mann noch lebte, verschaffte sie sich aus Übermut und vielleicht aus religiöser Überzeugung einen mächtigen Feind, Stephen Gardiner, Bischof von Winchester und Lordkanzler. Bei einem Abendessen schlug Brandon Damenwahl vor, und Catherine sagte laut, dass, wenn sie nicht ihren Gatten wählen dürfte, sie den Mann nähme, den sie am wenigsten möge, nämlich Gardiner. Er verzieh es ihr nie. Ähnliche Sticheleien betrieb sie wohl auch in jungen Jahren: sie nannte ihren Hund Gardiner und hatte einen Riesenspaß, wenn sie ihm „Sitz“ oder „Bei Fuß“ kommandierte. Der Hund wurde zudem im Bischofsornat gekleidet und in Prozession getragen. Viele Jahre später hat Gardiner an diese Beleidigungen erinnert. Es ist unsicher, wann genau sie stattgefunden haben, aber es scheinen doch die Späße einer sehr jungen Frau gewesen zu sein. Diese Anekdoten wären belanglos, hätte Gardiner sich nicht so gekränkt gefühlt.
2. Evangelische Witwe
Erst als sie sich nach dem Tod ihres Gatten 1545 mehr am Hofe aufhielt, als Hofdame für Catherine Parr, wurde ihre evangelische Gesinnung offenkundig. Sie gehörte zu dem evangelischen Kreis, den Catherine Parr um sich scharte. Zusammen hörten sie evangelische Predigten und studierten die Bibel in den Gemächern der Königin.
1546 wurde eine evangelische Adelsfrau namens Anne Askew der Ketzerei angeklagt. Sie hatte öffentlich in London gepredigt und dabei eine zwinglische Abendmahlslehre verbreitet. Askew wurde zweimal verhört und für schuldig befunden. Aber bevor sie den Tod auf dem Scheiterhaufen erleiden konnte, wurde sie noch einmal im Tower verhört und zwar von sehr hochrangigen katholischen Mitgliedern des „Privy Councils“, des Geheimrats des Königs. Sie wollten wissen, welche Kontakte Anne Askew zum Hofe hatte, und fragten besonders nach dem Kreis der Damen um die Königin. Viele von denen waren mit evangelisch gesinnten Höflingen verheiratet. Wäre es nur um sie gegangen, könnte man sich einen Angriff Gardiners gegen die evangelischen Ratsherren im Geheimrat vorstellen. Aber die Witwe Catherine Brandon wurde in der Befragung erwähnt. Es ist möglich, dass Gardiner sich den Frauenkreis vornahm, weil er damit die Königin der Ketzerei überführen wollte – Foxe berichtete von einem anderen Versuch Gardiners, die Königin zu beseitigen, der misslang. Aber selbst unter schlimmster Folter gab Anne Askew keine Namen preis. Wenige Tage danach wurde sie sitzend in einem Stuhl verbrannt, da sie nicht mehr stehen konnte (Foxe, 1563 edition, Book 3,732).
1547 starb Heinrich VIII. Er hinterließ eine Witwe und drei Kinder: Maria, Elizabeth und Edward. Edward war als männlicher Erbe der Thronfolger; er war von evangelischen Humanisten erzogen worden und von evangelischen Ratsherrn umgeben. Möglicherweise um das königliche Supremat über die Kirche zu erhalten, ließ Heinrich kurz vor seinem Tod Gardiner entmachten. Edward Seymour, sofort zum lord protector (Vormund des Königs) und Herzog von Somerset ernannt, übernahm die Regierung. Er war ein überzeugter Anhänger des neuen Glaubens. Thomas Cranmer, Erzbischof von Canterbury, schuf mit ihm die Agende: „Book of Common Prayer“ für den evangelischen Gottesdienst.
Catherine Brandon war jetzt in ihrem Element. Sie unterstützte einen evangelischen Drucker und Verleger namens John Day (King 1982, 2002). Eine Reihe von Büchern erschien nach 1548 mit ihrem Wappen, unter anderem ein Andachtsbuch Katherine Parrs. William Cecil, später erster Minister Elizabeths I., jetzt noch Sekretär des Herzogs von Somerset und Nachbar Catherine Brandons, schrieb dazu das Vorwort. Cecil blieb ihr Leben lang ein treuer Freund. Catherine Brandons Briefe an ihn sind eine vergnügliche Lektüre, ihre witzige, direkte Art kommt hier gut zum Vorschein. John Day druckte außerdem die Predigten Bischof Latimers mit einer Widmung an Catherine Brandon.
Bischof Hugh Latimer war eine Entdeckung Anna Boleyns. Schon 1530 predigte er die Fastenpredigten am Hofe. Er war Bischof von Worcester bis Heinrich VIII. gewisse katholische Dogmen für alle verbindlich machte, u. A. die Transsubstantiationslehre (Act of the Six Articles, 1539, Loades 2010, 21f). Latimer stellte seinen Bischofssitz dem König zu Verfügung. Eine Weile verbrachte er im Gefängnis und erst mit der Thronbesteigung Edwards VI. kehrte er zurück zum Hofe und predigte für den König und in London.
Latimer wurde der geistige Berater Catherine Brandons. Von 1552 bis 1554 wohnte er oft auf ihrem Gut Grimsthorpe und predigte dort. Eine Predigtreihe über die zehn Gebote entstand dort. Latimers Predigten kann man immer noch mit Vergnügen lesen. Er war wortgewandt, witzig, ein Meister der gut angebrachten Anekdote und von tiefer Frömmigkeit. In einer seiner Fastenpredigten von 1549 verglich er den Glauben mit einer wunderschönen Herzogin – zu der Zeit gab es in England zwei: die Herzogin von Suffolk und die von Somerset; Latimer nannte keinen Namen. Die Herzogin (der Glaube) hat einen „gentleman usher“, der ihr vorangeht und für sie den Weg bahnt – das ist die Sündenerkenntnis. Danach folgen die Hofdamen – das sind die guten Werke. Damit beschrieb er für alle anschaulich den Glauben als zentral, während Sündenerkenntnis und gute Werke vorher und nachher ihren Platz haben. Selbstverständlich wird angenommen, dass er von Catherine Brandon sprach (Harkrider, 70f).
Nach der Thronbesteigung Marias wurde Latimer mit den anderen evangelischen Bischöfen gefangengenommen. Catherine Brandon unterstützte ihn im Gefängnis mit Essen, Kleidung und Geld, das in den Tudor Gefängnissen benötigt wurde, um zu überleben (Read 96f). 1554 fing der Ketzerprozess gegen ihn an und im Oktober 1555 wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
In seinem Bestreben, die Englische Kirche zu reformieren, lud Erzbischof Cranmer Reformatoren nach England ein, und nach dem Augsburger Interim folgten viele seinem Ruf. Nach dem Tod Heinrichs 1547 konnte Cranmer mit der Kirchenreformation anfangen und die Edwardianische Kirche bekam eine deutliche reformierte Prägung. Viele englische Theologen waren in der Regierungszeit Heinrichs geflohen und oft reisten sie nach Zürich. Durch sie konnte Bullinger Einfluss auf die Ereignisse in England ausüben. Zürich und allmählich auch Genf wurden die Vorbilder der englischen Reformation. Die Altäre und Bilder verschwanden aus den Kirchen und stattdessen wurden Abendmahlstische aufgestellt. Ein Streit entbrannte über die Ornate der Pastoren.
Die Theologen, die als Glaubensflüchtlinge jetzt nach England kamen, waren berühmte Gelehrte ihres Faches und namhafte Reformatoren: Von Italien kamen Bernardino Ochino und Petrus Martyr Vermigli. Aus Straßburg folgten der Hebraist Paul Fagius und Martin Bucer. Cranmer ließ die beiden Italiener nach Oxford rufen, während Fagius und Bucer Professoren in Cambridge wurden (Brecht, 233-256).
Catherine Brandon ließ ihre beiden Söhne in Cambridge im St. John`s College einschreiben, mitsamt ihrem Tutor, Thomas Wilson (Harkrider, 81, Rex). Sie selbst kaufte sich ein Haus in der Nähe. Bald verband sie mit Bucer eine herzliche Freundschaft, er besuchte sie auf Grimsthorpe und sie schenkte ihm eine Kuh mit Kalb – letzteres wohl damit er Milch hatte. Ihr Verhältnis wurde so innig, dass Fagius durch den Sekretär Bucers in Straßburg, Conrad Hubert, Wibrandis Rosenblatt wissen ließ, dass sie schleunigst zu ihrem Gatten reisen sollte: „…sagend, Herrn Martinus Hausfrau, sie soll sich bald auf die Fahrt machen, oder er wird eine andere kriegen, die Herzogin von Suffolk will ihn haben, ist jetzt eine Wittfrau.“ (Bainton, 96)
Wibrandis Rosenblatt kam nach Cambridge mit der Familie, und als sie wieder wegfuhr, blieb Agnes Capito und kümmerte sich um Bucer. Ihm ging es jedoch gesundheitlich nicht gut. Als Wibrandis Rosenblatt 1550 nach England zurückkam, musste sie ihn im Winter pflegen. Catherine Brandon half ihr, aber trotz ihrer gemeinsamen Anstrengungen starb Bucer im Februar 1551. Catherine Brandon wurde von Edward VI. als Testamentsvollstreckerin an Rosenblatts Seite gestellt. Wibrandis Rosenblatt war jedoch mit den Engländern nicht zufrieden: „Ouch wussen, das mir der Bischof nit mer denn XXXX Lb. fur die Bucher geben hat. Er sagt die Frow (Herzogin Katharina von Suffolk) hab die besten; so hab der Kunig das geschrieben Ding; sin Theil sy zu thur. Ich hab recht genumen, was man mir geben hat; ich kann mich wider sy nit setzen.“ (Zimmerli-Witschi, 120)
Nach dem Tod Bucers wurde für ihn eine Gedenkschrift der Universitätsangehörigen in Cambridge herausgegeben. Darin waren beide Söhne von Catherine Brandon mit Beiträgen vertreten (Collinson 1983, 34). Diesen vielversprechenden jungen Männer war leider kein langes Leben vergönnt. Im Sommer 1551 brach der „Schweiß“ in Cambridge aus. Der sogenannte „Englische Schweiß“ war eine Infektionskrankheit, die innerhalb von kürzester Zeit ihre Opfer wegraffte. Die Brüder wurden sofort aus Cambridge weggebracht, starben aber innerhalb von Stunden, bevor es ihrer Mutter möglich war, zu ihnen zu kommen. Catherine Brandon war untröstlich. Es dauerte lange, bevor sie wieder anfangen konnte, Freude am Leben zu haben (Read).
Nicht nur Gelehrte flüchteten nach England, auch Handwerker und Handelsleute suchten einen Ort, wo sie ihre evangelische Überzeugung ausleben konnten. Für Cranmer war es eine Möglichkeit, reformierte Gemeinden zu gründen. In Canterbury entstand eine Französische Gemeinde (Pettegree 1986, 52f), wie in Glastonbury, wo viele wallonische Weber arbeiteten. In London entstanden gleich zwei Ausländergemeinden: eine französische und eine flämische, mit Johannes a Lasco als deren Superintendent. Zusammen mit den humanistischen Lehrern des Königs unterstützte Catherine Brandon die Gründung der Ausländergemeinden mit einer Bittschrift an den König und mit einer Bürgschaft (Pettegree 1986, 31). Für a Lasco waren es gute Jahren in London, mit Unterstützung vom König und von Cranmer und mit weitreichenden Freiheiten, ein reformiertes Gemeindeleben zu gestalten (Rodgers, Jürgens). Er zeigte sich später Catherine Brandon gegenüber dankbar.
3. Eine neue Familie. Flucht
Unter Edward VI. konnte Catherine Brandon ihre evangelische Gesinnung ausleben. Ihr alter Intimfeind Stephen Gardiner verbrachte diese Jahre im Tower of London und als sie ihn im Vorbeigehen sah, bemerkte sie mit lauter Stimme: „Es ist lustig für die Lämmer, wenn der Wolf weggesperrt ist.“ (Foxe, 1583 edition, Book 12, 2102-2105)
Die kirchlichen Reformen galten vor allem dem Gottesdienst und den Kirchengebäuden (MacCulloch 1999). Die alte katholische Ausstattung wurde aus den Kirchen verbannt, versteckt, verkauft oder verbrannt. Catherine Brandon, die in Lincolnshire Patronatsrechte für viele Kirchen besaß, hatte früher oft Pfründe an von ihren Klöstern vertriebene Mönche vergeben. Jetzt gab sie die Pfründe an verheiratete Männer mit Universitätsausbildung und gründete Schulen (Harkrider 84-94).
Auf Grimsthorpe hatte sie immer Kaplane mit evangelischer Gesinnung – und Hugh Latimer predigte dort als Dauergast.
Ein paar Jahre nach dem Tod ihrer Söhne heiratete sie einen Mann, den sie gut kannte und der ihre Religion teilte: Richard Bertie (1517-1582), ihr „gentleman usher“. Er war vom Adel, aber der niedere Adel tat beim Hochadel Dienst, sowie der Hochadel dem Königshaus diente. Sie heiratete einen Mann, der gebildet war, mehrere Sprachen beherrschte und ihr im Alltag treu zur Seite stand. Der „gentleman usher“ war eine Art Zeremonienmeister und er regelte vermutlich ihren Haushalt. Dennoch heiratete sie unter ihrem Stand. Anscheinend fühlte sie sich nach dem Tod ihrer Söhne frei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Es war wohl Hugh Latimer, der sie 1553 auf Grimsthorpe traute (Read 92). Während Catherine Bertie im Jahr danach schwanger wurde und 1554 eine Tochter, Susan, gebar, starb Edward im Sommer 1553. Seine Schwester Maria bestieg den Thron. Sie war immer katholisch gewesen, hatte in den vergangenen Jahren deswegen Streit mit ihrem Bruder gehabt und war überzeugt, dass sie das Werkzeug Gottes war, um England wieder zum katholischen Glauben zurückzuführen. Zuerst wurde die Messe wiedereingeführt. Die Gemeinden versuchten, ihre Kirchen so auszustatten, dass sämtliche Riten durchgeführt werden konnten – die Gemeinden, die vorher ihr Inventar versteckt hatten, konnten sich glücklich preisen (Loades 2010).
Sehr viele Engländer waren ohne Zweifel froh, zu den alten Sitten und Ritualen zurückzukehren. Andere hatten sich an die Gottesdienste in der Landessprache gewöhnt, lasen ihre Bibel auf Englisch und sahen die Messe als Götzendienst an. Diese Leute – vor allem in London – trafen sich heimlich zu Gottesdienst und Gebet.
Die ersten, die den Ernst der Lage spürten, waren die Ausländergemeinden. September 1553 bestieg a Lasco mit einem Teil seiner Gemeinde drei Schiffe und fuhr nach Dänemark. Im lutherschen Land war die Gruppe als reformierte nicht willkommen und sie setzte ihre Reise nach Emden und schließlich nach Frankfurt fort. Gardiner, der Lordkanzler Marias geworden war, entwickelte eine Technik, um Ketzer loszuwerden: er lud sie zum Gespräch ein! Meistens wurden diese ob dieser Einladung so erschrocken, dass sie sofort England verließen (Pettegree 1986, 115f).
Ostern 1554 erging dann die Einladung Gardiners an Richard Bertie. Gardiner listete alle die Kränkungen, die Catherine Bertie ihm zugefügt hatte, auf und fragte, wie Catherine es mit der Messe hielt. Die Königin wollte Philipp von Spanien heiraten und bei der Gelegenheit könnte Catherine Bertie – immer noch Herzogin von Suffolk – Anstoß erwecken: sie hatte immer noch nicht die Messe auf Grimsthorpe eingeführt und konnte bei den Hochzeitsfeierlichkeiten nicht teilnehmen, obwohl ihre Mutter dem spanischen Hochadel angehört hatte. Als ihr Gatte war Bertie für sie juristisch und religiös verantwortlich. Er verteidigte ihre Gewissensfreiheit und schlug vor, er solle Geld, das der Kaiser Charles Brandon schuldete, bei Karl V. eintreiben. Dafür erhielt er eine Ausreisegenehmigung und versuchte, Asyl für Catherine und Susan, die im selben Jahr geboren worden war, zu finden. Im Herbst 1554 wurden die mittelalterlichen Ketzergesetze wieder in England eingeführt mit Wirkung vom 20. Januar 1555. Anfang Januar 1555 verließ Catherine Bertie in der Nacht ihr Haus in London mit dem Kind und ein paar Dienstboten (Foxe, Hrsg. Cattley 1839, Bd.8, 569-572).
Maria Tudor hatte vorerst die wichtigsten Geistlichen im Visier: die Bischöfe Cranmer, Ridley und Latimer waren schon in Gefängnis. Am 28. Januar wurde Anklage gegen andere leitende Evangelische erhoben. Alle starben den Märtyrertod – was seitens der Regierung vielleicht nicht vorgesehen oder gar erhofft war (Loades 2010, 81-96). Viele Mitglieder der Oberklasse, vor allem die Schwester der Königin, Prinzessin Elizabeth (http://www.frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=115) und William Cecil, der Freund Catherine Berties, blieben in England und gingen zur Messe. Andere ergriffen die Flucht (Garrett).
Catherine Bertie hatte eine abenteuerliche Reise in die Niederlande vor sich. Den Ärmelkanal im Winter zu überqueren erwies sich als schwierig. Nach Wochen erreichte sie endlich Land, wurde von Richard Bertie (Garrett, 87-89) empfangen und nach Xanten gebracht. Sie wussten, dass sich die wallonische Flüchtlingsgemeinde aus London mit ihrem Pfarrer François Perussel im benachbarten Wesel aufhielt, und wollten auch dorthin. Xanten war katholisch und dort konnten sie nicht bleiben. Während sie noch in Xanten ihren Asylbescheid abwarteten, erfuhren sie, dass sie erkannt worden seien, und beschlossen, zu Fuß nach Wesel zu laufen ohne Bedienstete und Gepäck, nur sie drei, als ob sie einen Spaziergang machten. Es war kalt und frostig und während sie unterwegs waren, regnete es auf den gefrorenen Boden. Völlig durchnässt kamen sie in Wesel an. Keine Herberge wollte sie hereinlassen und am Ende suchten sie Schutz unter dem Vordach der Kirche (St. Willibrord?). Richard Bertie suchte nach Feuerholz und fand mit Hilfe einiger Schuljungen, die mit ihm Latein sprechen konnten, das Haus, wo Pastor Perussel gerade zu Abend aß. Groß war die Freude des Wiedersehens. Die Berties erhielten trockene Kleider und am nächsten Tag wurde ihnen vom Stadtrat Asyl gewährt (Foxe 1839, Bd. 8, 572-574).
Wesel hatte schon 1545 eine Gruppe wallonischer Weber aus Tournai aufgenommen. Man konnte die Handwerker gut gebrauchen und versicherte sich nur, dass die keine Wiedertäufer waren. Sie konnten Predigtgottesdienste in eigener Sprache halten, aber Sakramentsverwaltung wurde ihnen nicht zugestanden. Sie mussten mit der lutherschen Stadtgemeinde die Sakramente empfangen. Sie suchten Rat bei Calvin und er ermahnte sie zur Besonnenheit (CO 20, 419ff, Nr.4169; Weseler Konvent, 28ff). Als Perussel im Herbst 1553 mit den Wallonen aus England ankam, wiederholten sich die Probleme. Die Flüchtlinge hatten in England weitgehende Selbständigkeit genossen. Wieder schrieb Calvin an sie und mahnte zur Geduld (13.3.1554, CO 15, 78ff; a.a.O. 31f). Perussel schrieb allerdings auch an a Lasco und wurde von ihm unterstützt, Selbständigkeit für seine Gemeinde einzufordern. Das ging natürlich nicht gut. Melanchthon wurde um ein Gutachten gebeten, aber die Stadt entschied für sich, dass die Flüchtlinge weiterziehen mussten. Im März 1557 verließen die Engländer Wesel, nachdem sie sich beim Rat für den Aufenthalt bedankt hatten. Sie zogen nach Bern, wo sie sich im Aarau (Garrett, 353-356) niederlassen durften. Perussel zog mit einer Gruppe nach Frankfurt (Denis, 161-222).
Catherine und Richard Bertie waren schon längst nicht mehr in Wesel. Am 12. Oktober 1555 hatte Catherine einen Sohn, Peregrine (Lat. Peregrinus = Fremdling) geboren und ihn am 14. Oktober in St. Willibrord taufen lassen. Sehr viele Engländer hatten im Laufe des Jahres sich ihnen angeschlossen und durften englische Gottesdienste (ohne Sakramentsfeier) abhalten. Zwei frühere Bischöfe waren unter ihnen: Miles Coverdale, der Tyndale`s Bibelübersetzung vervollständigt hatte (Garrett, 132-134), und William Barlow (Garrett, 80). Im Herbst 1555 setzte sich Miles Coverdale beim Pfalzgrafen und Herzog Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken für die Berties ein. Coverdale hatte durch die Empfehlung von Conrad Hubert, Bucers Sekretär, eine Stelle als Schulmeister in Bad Bergzabern inne. 1555 kehrte er dorthin als Kaplan zurück. Dadurch war er dem Pfalzgrafen bekannt. Dessen Vetter, der Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz, bot der Herzogin sein Schloss Weinheim als Wohnung an (Harkrider).
Dort kam im Juli 1556 ein Kurier von Maria Tudor an. Im Herbst 1555 hatte das Parlament in London einen Gesetzesvorschlag Marias zu Konfiskation des Besitzes der Glaubensflüchtlinge abgeschmettert. Nach geltendem Recht wurde nur der Besitz von verurteilten Schwerstverbrechern und Aufrührern konfisziert. Das Parlament lehnte es ab, diese Gesetzgebung auf die Glaubensflüchtlinge zu erweitern (Loades 2007, 45f). Maria hatte jedoch im folgenden Jahr Briefe an wohlhabende Glaubensflüchtlingen geschrieben, und ein gewisser John Brett als Kurier sollte sie überreichen. In seinem Report über seine Reise vermied Brett es sorgfältig, sich zum Inhalt der Briefe zu äußern. Ihrerseits wollten die Adressaten sie gar nicht entgegennehmen. In Frankfurt klagten sie über Brett beim Bürgermeister, in Weinheim vertrieben ihn die Dienstboten der Herzogin mit Steinen. Sie verklagte ihn beim Kurfürsten und er verbrachte einiger Zeit in Heidelberg im Gefängnis. In Straßburg schließlich wurde er von einem bewaffneten Mann von den Flüchtlingen ferngehalten (Brett). Unverrichteter Dinge musste Brett zurück nach England.
In Weinheim hatte Catherine Bertie große Ausgaben: sie sollte ihren Lebensstil aufrechterhalten und den Haushalt bezahlen (Harkrider, 109). Es muss sich herumgesprochen haben, dass ihr Geld knapp wurde. In Polen hörte Johannes a Lasco davon (vielleicht stand er immer noch in Verbindung mit Frankfurt?) und ersuchte König Sigismund II. Augustus um Hilfe für sie. Der Wojwode (=Pfalzgraf) von Vilnius, Mikolai Radziwill, selbst überzeugter Reformierter, sorgte dafür, dass der König ein an die Krone heimgefallenes Lehen in Kraziai in Litauen den Berties schenkte.
Dieses königliche Hilfsangebot erfreute die Berties sehr. Sie wagten jedoch nicht das Angebot ohne weiteres anzunehmen, sondern schickten den früheren Bischof von Bath und Wells, William Barlow, nach Polen. Dieser hatte schon für sie in Weinheim die Verhandlungen mit John Brett geführt, da die Berties, wie die anderen Flüchtlinge auch, direkten Kontakt mit Brett und seinen Briefen vermieden. William Barlow wurde auf seiner Reise von John Burcher (Garrett, 100f) begleitet, einem Kaufmann, der angeblich lernen sollte, in Krakau Bier zu brauen, der aber in seinen Briefen an Bullinger von Johannes a Lascos Wirken in Krakau erzählte (Cross). Diese Erkundungsreise war erfolgreich, und die Berties mit ihren Kindern setzten sich in Bewegung. Nördlich von Frankfurt trafen sie Soldaten des Landgrafen (Philipp von Hessen?) und der kleine Spaniel der Herzogin griff sie an. Die Soldaten durchbohrten die Karosse mit ihren Bärenspießen und Bertie mit den Hauskerlen verteidigten sie. Im Kampfgetümmel wurde das Pferd des Kapitäns getötet und die Soldaten waren überzeugt, dass diese Wallonen ihren Kapitän umgebracht hatten. Bertie ritt in die nächste Stadt, um die Angreifer von der Karosse wegzulocken. Dort suchte er Schutz im obersten Stock eines Hauses, wo er sich mit seinem Degen verteidigen konnte, bis der Bürgermeister kam, der Latein sprach. Bertie ergab sich ihm. Am nächsten Tag trafen sowohl die Herzogin als auch der Graf von Erbach ein. Der Graf kannte die Herzogin von früher und verneigte sich tief vor ihr - zum Staunen der Bürger (Foxe, 1839, Bd. 8, 574-576).
Ihre weitere Reise verlief ohne Zwischenfälle. Die nächsten zwei Jahre verbrachten sie in Litauen auf ihrem Gut. Im Winter 1558/59 erfuhren sie die Nachricht vom Tod Marias und der Thronbesteigung Elizabeths. Catherine Bertie schrieb an Elizabeth und beglückwünschte sie. Außerdem schickte sie ein kostbares Neujahrsgeschenk. Mit solchen Geschenken zeigte die Königin ihr Wohlwollen und die Untertanen bezeugten ihre Treue. Bald verstand Catherine Bertie jedoch, dass die so sehnsüchtig erwartete Königin mit äußerster Vorsicht vorging: es war nicht ihre Absicht, eine reformierte Kirche nach dem Vorbild von Genf und Zürich einzuführen. Enttäuscht schrieb die Herzogin an ihren Freund Cecil, dass die Englische Kirche weder katholisch noch reformiert sei. Sie lobte Maria Stuart für ihre konsequente Verteidigung der Messe: Sie habe wenigstens Haltung gezeigt! (Read, 132ff, Bainton, 273f)
4. Puritanerin in England
Im Sommer 1959 fuhren die Berties zurück nach England – Fürst Radziwill kaufte das Lehn von ihnen zurück und machte damit die Heimreise möglich. Bei ihrer Ankunft gab Elizabeth der Herzogin alle ihre Güter zurück und bürgerte den kleinen Peregrine ein. Sie wohnten fortan auf Grimsthorpe.
Miles Coverdale, zurück aus Genf, wo er an der englischen Bibelübersetzung („the Geneva Bible“) mitgewirkt hatte, zog vorerst nach Grimsthorpe. Später siedelte er nach London um.
1562 wurde eine neue Ausgabe von den Predigten Latimers verlegt, und in der Widmung an die Herzogin schrieb der Herausgeber Augustin Bernher, der Assistent Latimers, dass sie alles aufgegeben habe, um „ein Flüchtling für Christus und sein Evangelium zu werden“. Sie sei ohne Zweifel vom Exil zurückgebracht worden, „um die Verzweifelten zu trösten und um ein Werkzeug zu werden, damit sein heiliger Name gepriesen sein soll und sein Evangelium verbreitet“ (Goff 238f, Übersetzung M.N.). Damit hatte Bernher den Wunsch geäußert, Catherine Bertie möge den Puritanern beistehen. In der folgenden Ausgabe der Predigten aus dem Jahr 1578, schrieb Bernher in seiner Widmung: „An etliche gab der gnädige Gott eine solche Tapferkeit (= valiant spirit), dass sie alles aufgegeben haben und geduldig in fremden Ländern reisten…“ (Goff, 317). Für Reformierte wie Bernher war die Flucht, um den Glauben woanders bekennen zu können, eine mutige Handlung. Er selbst war zur Regierungszeit Maria Stuarts in London geblieben, um die heimlichen reformierten Gemeinden pastoral zu betreuen. Seine Ablehnung galt den Personen, die in England geblieben waren und zur Messe gingen. Man denke an Cecil und an Elizabeth. (Vollständige Zitate in der Originalsprache im Anhang.)
In den folgenden Jahren bildete sich in der Englischen Kirche ein reformierter Flügel aus Theologen und Laien, die fanden, die Elizabethanische Kirche sei ungenügend reformiert. Diese Gruppierung wurde Puritaner genannt, aber selbst bezeichneten sie sich als „the godly“ = die Frommen. Selbst die von Elizabeth ernannten Bischöfe meinten, man solle die Kirche weiter reformieren („ecclesia semper reformanda“), wurden aber von der Königin zurückgepfiffen.
Vornehme Familien am Hofe – die Sidneys, die Dudleys und die Russells – gehörten zu den Puritanern, aber Catherine schloss sich diesen Kreisen nicht an. Vielleicht wagte sie es nicht, sich mit Elizabeth anzulegen. Während Robert Dudley, Favorit Elizabeths und Graf von Leicester, puritanische Geistliche im ganzen Königreich untergebrachte, konzentrierte Catherine sich auf Lincolnshire (Harkrider, 115-135).
Viele puritanische Landadelige lebten ihre religiöse Überzeugung im häuslichen Rahmen vor. Andachten, Bibellesungen und eine strenge Lebensführung prägten ihren Tagesablauf. Darüber hinaus versorgte Catherine die Kirchen, wo sie Patronatsrecht hatte, mit an der Universität ausgebildeten Pastoren. Die wichtigste Anforderung an einen puritanischen Pastor war die Predigt – die früheren katholischen Priester waren ja vor allem Messpriester und Sakramentsverwalter gewesen. In London war der Bischof vorsichtig bei der Berufung von Puritanern; um 1565 herum entbrannte ein Streit mit diesen Pastoren, weil sie sich weigerten, Messgewändern zu tragen. Einige wenige Kirchen waren frühere Klosterkirchen und standen somit nicht unter der Aufsicht des Bischofs. Catherine Bertie besaß in London das alte Klarissenkloster The Minories und in der dazugehörigen Kirche Holy Trinity ließ sie ihre Kaplane predigen. Diese Gottesdienste wurden von den Puritanern in London besucht (Collinson 1967, 50, 68, 86, Collinson 1983, 259f, Bainton 275f).
Die puritanische Überzeugung der Herzogin minderte nicht ihren Ehrgeiz für ihre Familie. Sie hatte ja noch Zugang zum Hofe durch Cecil, später Lord Burghley. Zuerst versuchte sie Richard Bertie zu Baron Willoughby de Eresby ernennen zu lassen. Das gelang nicht. Dann wollte sie ihrem Schwiegersohn den Titel des Grafen von Kent zuerkennen. Damit hatte sie Erfolg: zwar lebte der Schwiegersohn nicht lange, aber die Tochter Susan wurde Gräfin. Schließlich wurde ihr Sohn Peregrine Baron Willoughby de Eresby.
1550 hatte der Herzog von Somerset ihr vorgeschlagen, seine Tochter mit ihrem ältesten Sohn, Henry Brandon, zu vermählen. Es war ein ehrenvolles Angebot, aber sie schlug es aus mit der Begründung, die jungen Menschen sollten abwarten, ob sie sich lieben könnten (Bainton, 255f). Als Peregrine dagegen im heiratsfähigen Alter war, verliebte er sich in Lady Mary de Vere. Diese Ehe passte nun der Herzogin gar nicht. Die Familie de Vere neigte eher dem Katholizismus zu („…our religions agree not“ Goff 309) und der Bruder Marys, der Graf von Oxford, hatte seine Frau, die Tochter Cecils, sehr schlecht behandelt. Wie dem auch sei, die Herzogin verbrachte ihre letzten Jahren in Klagen über ihre missratenen Kinder und Schwiegertochter. Erst als Catherine Bertie 1580 starb, wurde die Ehe Peregrines anscheinend glücklicher. Er und seine Frau bekamen sieben Kinder und er leistete erfolgreich Militärdienst für Elizabeth. Susan heiratete 1581 in zweiter Ehe einen Offizier, Sir John Wingfield, der für seine Tapferkeit bekannt war.
In Spilsbys Kirche steht ein imposantes Grabmal für Catherine und Richard Bertie mit Büsten von ihnen und biblischen Texten. Die Inschrift lautet: „Sepulchrum D. Ricardi Bertie et Catherinae Ducissae Suffolkiae, Baronissae de Willoby de Eresby, coniug. ista obiit XIX Septemb. 1580. Ille obiit IX Aprilis, 1582“: Das Grab von Herrn Richard Bertie und von Catherine, Herzogin von Suffolk, Baroness de Willoughby de Eresby, seine Gattin. Sie starb am 19. September 1580. Er starb am 9 April 1582.
5. Würdigung
Das Leben der Catherine Willoughby/Brandon/Bertie war von ihrer hohen Abstammung und großem Reichtum bestimmt. Als Witwe behielt sie den Titel ihres ersten Gemahls und war lebenslänglich als die Herzogin von Suffolk bekannt. Nach dem Tod Heinrichs VIII. spielte sie eine herausragende Rolle in der Regierungszeit Edwards V, war eine Vollstreckerin der königlichen Anordnungen und pflegte wichtige Freundschaften (nur mit Wibrandis Rosenblatt haperte es mit der Freundschafft!).
Sie nahm sich das Recht heraus, aus Liebe zu heiraten. Der jakobitische Bühnenautor John Webster schrieb seine etwas blutrünstige Tragödie „The Duchess of Malfi“ über dieses Thema: eine junge Frau, die trotz ihrem hohen Stand es wagt, ihr Liebesglück nachzustreben.
Catherine Bertie wurde in „The Book of Martyrs” von John Foxe aufgenommen, nicht weil sie auf dem Scheiterhaufen landete, sondern weil sie als Flüchtling Zeugnis ihres Glaubens ablegte. Die Quelle für John Foxe ist zweifelsohne Richard Bertie, der Episoden erzählte, in welcher er selbst eine vorteilhafte Rolle spielte. Bertie diente der Herzogin treu und ergeben. Er blieb nicht ohne Kritik. Goff berichtet (S.215), dass auf seinem Porträt auf Grimsthorpe jemand geschrieben hat: „Cendre Bien delguise Toutefois Cendre“: Selbst gut verkleidet bleibt Asche nur Asche. Das war Richard Bertie gegenüber sehr unfreundlich. Die Rechnungen für das Gut Grimsthorpe zeigen, dass er im feinsten Zwirn gekleidet war (Read 149f).
Die Zeit auf der Flucht war von viel Hilfe geprägt. Der Pastor Perussel, die früheren Bischöfe Coverdale und Barlow, die Pfalzgrafen, Johannes a Lasco und Fürst Radziwill – alle halfen sie der Herzogin und ihrer Familie. Gewissermaßen war sie immer von einer schützenden Hülle umgeben. Die Zeitgenossen bewunderten ihren Mut und Bereitschaft, England für ihren Glauben zu verlassen und in fremden Ländern zu leben.
Trotz aller Frömmigkeit verdarb sie sich ihre letzten Jahre mit ihrem Familienzwist. Sie war nie umgänglich gewesen, ihre „heats“ (= hysterische Anfälle) waren berüchtigt und gefürchtet, und sie kränkte nicht nur Stephen Gardiner. Andererseits blieben Bedienstete bei ihr über Generationen hinweg und ihre Briefe an Cecil zeigen eine sehr charmante Frau.
6. Die Herzogin von Suffolk in der Kunst
Das Schicksal der Herzogin inspirierte Dichter und Regiseure: Thomas Deloney (1543-1600) schrieb eine Ballade: „The most Rare and Excellent history of the Dutchess of Suffolk and her Husband Richard Berties Calamities”.
1624 verfasste Thomas Drue (Drew) ein Schauspiel: „The Life of the Duchess of Suffolk“. Es ist abgedruckt in Goff und von mäßigem Interesse.
John Webster´s oben erwähnte Tragödie: „The Duchess of Malfi“ ist von ihr inspiriert, ohne auf historische Fakten Rücksicht zu nehmen.
In der Fernsehserie „The Tudors“ wird sie Catherine Brooke genannt. Nicht nur was den Namen anbelangt hat die Figur mit der historischen Catherine Willoughby nichts gemeinsam. Auch die erste Ehe von Charles Brandon mit Mary Tudor hat mit historischen Tatsachen wenig zu tun.
Die historische Wirklichkeit ist genauso spannend.
Anhang:
Originaltext von Latimer´s Sermons, Widmung von 1562:
„I have set forth these sermons, made by this holy man of God (scil. Latimer), and dedicated them to your Grace, partly because they were preached in your Grace´s house at Grimsthorpe by this reverend father and faithful prophet of God, whom you did nourish, and whose doctrine you did most faithfully embrace, to the praise of God and unspeakable comfort of all Godly hearts, the which did, with great admiration, marvel at the excellent gifts of God, bestowed upon your Grace, in giving unto you such a princely spirit, by whose power and virtue, you were able to overcome the world, to forsake your possessions, lands and goods, your worldly friends and native country, your high estate and estimation with which you were adorned and to become an exile for Christ and his Gospel´s sake; to choose rather to suffer adversity with the people of God than to enjoy the pleasures of the world with a wicked conscience, esteeming the rebukes of Christ greater riches than the treasures of England, whereas the worldings are far otherwise minded; for they have their pleasures among the pots of Egypt, they eat, drink and make merry, not caring what became of Christ, or his Gospel; they be so drunken with the sweet delicates of this miserable world that they will not taste of the bitter morsels, which the Lord has appointed and prepared for His chosen children and especial friends. Of the which he did make you most graciously to taste, giving unto your Grace His spirit that you were able in all the turmoils and grievances the which you did receive, not only at the hands of those who were your professed enemies but also at the hands of them who professed friendship and good-will but secretly wrought sorrow and mischief; to be quiet and patient and in the end, brought your Grace home again to your native country, no doubt to no other end but that you should be a comfort to the comfortless and an instrument by which His Holy name should be praised and his Gospel propagated and spread abroad: to the glory of His Holy name and your eternal comfort in Christ Jesus, into whose merciful hands I commit your Grace with all yours eternally.” (Goff, 238f)
Latimer´s Sermons, Widmung von 1578: „Unto some, the self same most gracious God gave such a valiant spirit that they were able, by His Grace, to forsake the pleasures & commodities of this world, & being armed with patience, were content to travel into far & unknown countries, with their families & households, having small worldly provision, or none at all, but trusting in His providence, who never forsake them that trust in Him.” (Goff, 317)
Literatur:
Quellen:
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Christlicher Schöpfungsglaube und naturwissenschaftliches Weltverständnis
Wie kann man dem Kreationismus argumentativ begegnen?
1. Das Problem
2. Ist der Kreationismus ein biblisches Konzept?
2.1 Wann sind sie Schöpfungsberichte entstanden?
2.2 Gibt es ein Darstellungsprinzip („Weltbild“) der Schöpfung?
2.3 In welchem Sinne ist die Schöpfung ein Anfang?
2.4 Kann die Theologie die Evolutionslehre akzeptieren?
3. Die These des Intelligent Design: ein versteckter Gottesbeweis?
3.1 Thema und Problem
3.2 Wo haben wir die „Wahrheit“ der Schöpfungsaussagen zu suchen?
Auf die Frage, wo in seiner Theorie der Planetenentstehung Gott vorkomme, soll der Mathematiker Laplace (1749-1827) Napoleon mit dem berühmten Diktum geantwortet haben: „Sire, ich habe diese Hypothese nicht nötig.“ Die Wissenschaft kommt ohne die Annahme eines Gottes aus. Der moderne Begriff des Wissens und der Wissenschaft hat sich seit Galilei in einer bewussten Absage an das theologische Wissen der biblischen Tradition formiert, und auch die moderne Theologie hat diese Absage in aller Form für rechtens erklärt: „Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden … Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weit wie irgend möglich auszuschalten“ (D.Bonhoeffer).[1] Doch damit steht der „mündige“ Christ vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Er sucht die Kluft zwischen Glaube und Wissen zu überwinden, doch seine Wissenschaft weist schon die Frage nach einem Gott als illegitim zurück. Es ist ein Dilemma, das Viktor von Weizsäcker schon zu Beginn des letzten Jh.s prägnant formuliert hat: „Wo kommt die Wissenschaft hin, welche zulässt, dass ein Gott zwischen unsere Experimente fährt, welche ein abweichendes Experiment als gottbefohlen hinnimmt? Wo aber kommt der religiöse Mensch hin, der in dem Augenblick, in dem er sein Laboratorium betritt, mit Hut und Stock auch seinen Gott an den Nagel hängt?“[2] Der Glaube fühlt, dass ihn ein empirisch begründetes Wissen bedrängt, dass seinen Worten keine greifbare (verifizierbare) Erfahrung mehr entspricht. Wer diese Spannung nicht auszuhalten vermag, entscheidet sich heute für die atheistische Version eines Richard Dawkins („Der Gotteswahn“): Naturwissenschaftliche Erklärungen der Welt und religiöse Weltinterpre- tationen seien unvereinbar. Der Kosmos und das Leben in ihm sind Produkte von Zufall und Notwendigkeit. Die Welt hat ihre Fugen geschlossen. Sie schweigt von Gott.
Der Preis für diese heute fast selbstverständlich gewordene Überzeugung ist jedoch hoch. Das Ungenügen an dem, was wir methodisch wissen und wissen können, wird von nachdenklichen Physikern mit einer erstaunlichen Offenheit eingestanden: „Weder in den Tiefen des Raums noch im Innern der Atome“, schreibt etwa Harald Fritzsch, hat der Mensch gefunden, was er mit all seinen Anstrengungen suchte, „Sinn für sein Dasein und die Möglichkeit, … ethische Werte und Ziele für sich abzuleiten“.[3] Auf der Bahn der objektiven, rationalen Erkenntnis „geht die Suche nach dem Sinn ins Leere“. Jürgen Audretsch, theoretischer Physiker aus Konstanz, hat diese Diagnose in aller Form bestätigt: „Von der physikalischen Kosmologie geht keine theologische Botschaft aus“.[4] Sie erzwingt keine theologischen Konzepte, legt sie nicht einmal nahe. Ganz abgesehen davon, dass der Theologe, der hier mit seinen Deutungsversuchen ansetzen wollte, den Physikern „etwas ganz und gar Unfertiges aus der Hand nehmen“[5] würde, hätte er auch die Bibel gegen sich, die mit ihrer Rede vom „Anfang“ (Gen 1,1) keine historisch-genetische Erklärung der Weltentste- hung geben will. Hier werden Tatsachen und Interpretationen verwechselt.
Das ist keine ermutigende Auskunft für einen Forscher, der auf wissenschaftlicher Basis nach einer Deutung der Welt sucht, die auch sein Bedürfnis nach einer sinnhaften, seine eigene Existenz mit umfassenden, vielleicht sogar erhellenden Weltorientierung zu befriedigen vermag. Die schmerzhafte Kluft zwischen dem medizinischen Fortschritt und einer Ethik, die das sprunghaft angewachsene technische Können in menschlichen Grenzen zu halten versucht, wenn es um den therapeutischen Eingriff in die Keimbahn geht, die Forschung an und mit Stammzellen oder die Lebensverlängerung eines todkranken Patienten, steht uns heute deutlich genug vor Augen. Man begreift die Anziehungskraft, die die „alternativen“, an den Rändern der Wissenschaft angesiedelten Deutungsversuche des Kreationismus und des Intelligent Design auf viele Menschen ausüben, wohl erst dann, wenn man sie auf diesem Hintergrund ernst zu nehmen versucht. Die Geschwindigkeit des wissenschaftlichen Fortschritts steht in einem genauen Verhältnis zu unserer Hilflosigkeit, uns in dieser Welt der „zweiten Schöpfung“ zu orientieren. Diese Problematik unseres Wissenschaftsbetriebs anzusprechen, ist sicher eine legitime Aufgabe auch des schulischen Physik- und Biologie – Unterrichts. Eine ganz andere Frage ist es, ob diese Versuche haltbar sind.
Der besonders in den USA zu weltanschaulicher Geltung gekommene Kreationismus sucht den Ursprung irdischen Lebens in Entsprechung zu einem wörtlichen Verständnis von Gen 1 und 2 als göttliche Setzung zu begreifen (wogegen der Theologe noch keinen Einspruch erheben wird), verbindet diese Verständnis aber mit einer fundamentalen Absage an den Gedanken einer Evolution. Er bemüht sich stattdessen darum, wissenschaftliche Beweise für die biblische Darstellung vom Ursprung des Lebens aufzubieten. Wir haben zu prüfen, ob dieser Weg seinem Anspruch gemäß tatsächlich als ein biblisches Konzept gelten kann. Die These des Intelligent Design ist dagegen ein sehr viel reflektierterer Versuch, mit den geschilderten Problemen umzugehen. Ohne die Evolution zu bestreiten, will sie in kritischer Absicht zeigen, dass die bekannten Gesetze der Physik und die Prinzipien Darwins nicht imstande sind, die Entwicklung des Lebens hinreichend zu erklären, dass vielmehr dem Entstehen und Werden der Welt ein „geistiger“, göttlicher Bauplan zugrunde liegen muss, der die gesamte Entwicklung ermöglicht und trägt und auf ein Ziel hin ausrichtet. Johannes Kepler, aber auch modernen Physikern wie Max Planck oder Werner Heisenberg war diese Fragestellung selbstverständlich.[6] Doch kann man auf diesem Wege Gottes Wirken in der Welt plausibel, geschweige denn evident machen?
Wo also liegt das Problem? An der Einheit der Wirklichkeit, die der Physiker mit dem Theologen teilt, kann man vernünftigerweise nicht zweifeln. Die Relativitätstheorie redet von demselben Universum wie der der 8. und 104. Psalm unserer Bibel. Das Standardmodell der Kosmologie fragt nach dem Anfang derselben Welt wie das erste Kapitel der Genesis. Aber sie tun es auf eine denkbar verschiedene Weise, in einer unterschiedlichen Sprache und mit einer unterschiedlichen Absicht. Die Einheit der Wirklichkeit zerfällt über dem Versuch, sie zu verstehen, in zwei verschiedene Welten.[7] Es sind nicht erst die inhaltlichen Ergebnisse der neuzeitlichen Wissenschaft und das daraus resultierende „Weltbild“, die uns von den biblischen Berichten trennen; es sind – weit folgenreicher – bereits ihre Fragestellungen und Methoden. Es gibt Fragen, allen voran die nach der Entwicklung des Kosmos und des Lebens in ihm, die sich im Horizont der Antike und so auch der Bibel nicht einmal hätten stellen lassen. Können wir überhaupt voraussetzen, dass im Sprachraum der Bibel und im Horizont heutiger Biologie und Physik dasselbe erfahren wird, so dass hier ein unbegründbarer Glaube gegen ein sich ausweisendes Wissen steht, oder wird die Situation nicht angemessener beschrieben, wenn man davon ausgeht, dass hier zunächst einmal Erfahrung gegen Erfahrung steht? Dann jedenfalls lässt sich die offenkundige Spannung kaum so auflösen, dass man die Symbole der Schöpfungstheologie, das anfängliche „Wort“ oder die tätige „Hand Gottes“, in den Kontext der Physik hineinzuinterpretieren versucht und sie damit erst recht zu unverständlichen Fremdkörpern macht.
Harald Fritzsch nennt die „Welt“ des Glaubens und die „Welt“ der Naturwissenschaft „komplementäre Welten, die sich gegenseitig bedingen“.[8] Ich will dieses Angebot aufnehmen, auch wenn es sich nicht befriedigend einlösen lässt. Denn unter Komplementarität verstehen Physiker den Sachverhalt, dass zwei Begriffe, die derselben Theorie angehören, „nicht gleichzeitig benutzt werden können, gleichwohl aber beide benutzt werden müssen“.[9] Die Aussagen des Glaubens und die Aussagen der Wissenschaft gehören jedoch nicht derselben Theorie an, wohl aber beziehen sie sich auf denselben Gegenstand, unseren Kosmos und das Leben in ihm, und so tritt auch hier ein ähnliches Dilemma auf: Wie in der Physik Zustände mit bestimmtem Ort und Zustände mit bestimmtem Impuls „nicht zugleich“ vorliegen können, da jeweils nur eine der beiden Größen messbar, nur ein Zustand „scharf“ ist, so können auch wir nur eine der beiden „Welten“ scharf ins Auge fassen, entweder die des Glaubens oder die des Wissens, nie aber, was wir so gerne wollen, beide zugleich.
Hinter diese Situation gibt es kein Zurück, seit die neuzeitliche Methode so entworfen ist, dass sie von der Existenz und Wirksamkeit Gottes völlig absehen kann (ohne darum freilich sein Dasein schon bestreiten zu müssen). Es lässt sich dafür sogar ein präzises Datum angeben: Seit Descartes die Zweckursachen (Finalität) aus dem Kanon brauchbarer (und zulässiger) Methodenregeln gestrichen hat[10], ist die Brücke eingestürzt, über die Jahrhunderte lang der Weg von der Welt zu Gott geführt hat.[11] Wir sprechen von einem methodischen Atheismus, und das impliziert: Religiöse Deutungen der Naturgesetze haben „jeden logisch zwingenden Zusammenhang mit dem Begriff des Naturgesetzes selbst“ verloren.[12] Damit ist das Band, das die wissenschaftlich erkennbare Natur an einen göttlichen Ursprung binden könnte, definitiv durchschnitten. Diese Einsichten lassen nur einen Schluss zu: Wissen- schaftlich – das Wort in seiner heutigen, strengen Bedeutung genommen – ist der Kreationismus ein unhaltbares Unternehmen. Wie aber steht es mit seinem Anspruch, das biblische Zeugnis der Schöpfung von Himmel und Erde sachgemäß zu interpretieren?
2. Ist der Kreationismus ein biblisches Konzept?
Ich will mit einer elementaren Feststellung beginnen. Eine biblische Lehre von der Schöpfung, die sich auch nur entfernt mit dem kohärenten Wissen moderner Naturerkenntnis vergleichen ließe, gibt es nicht. Von der Schöpfung wird in der Bibel erzählt. Erzählungen aber bewegen sich im Nahbereich menschlicher Erfahrung: über uns der bestirnte Himmel, neben uns Pflanzen und Tiere, hinter uns eine Zeit, deren Erstreckung wir kaum ermessen, vor uns ein Raum, den wir planend gestalten müssen. Und außer der Wirklichkeit, die wir sehen dann die Realität des Unsichtbaren: Angst, Freude und Leiden, auch Liebe, Sorgen, Erinnerungen und Erwartungen. Mit diesen Grundbedingungen unseres Lebens hat es die Schöpfung zu tun. Sie werden nicht untersucht oder erklärt, schon gar nicht „wissen- schaftlich“; sie werden gedeutet und interpretiert, d.h. auf ihre Bedeutung für unser Dasein befragt. Das moderne Interesse, eine einfache Grundstruktur, also eine Art Bauprinzip in aller Realität freizulegen, ist den biblischen Texten fremd. Sie folgen der Selbstentfaltung alles Lebendigen und konzentrieren sich auf die Schilderung der Relationen und Abhängigkeiten, in die dieses Leben eingebunden ist und in denen es gelingt. Darum führt das Thema einer Konkurrenz zwischen Bibel und Naturwissenschaft auf dieser Ebene in eine sinn- und ausweglose Sackgasse. Es sind zwei verschiedene Perspektiven, unter denen dieselbe Welt hier und dort erscheint. Die Bibel folgt einem anderen Entwurf mit anderen Selbstverständ- lichkeiten und Fragen, als unser Zeitalter sie kennt. Davon soll nun die Rede sein.
Das gilt in erster Linie bereits für die Frage nach dem Ursprung, der Herkunft unserer Welt. Da der Vorgang ihrer Erschaffung keinen menschlichen Zeugen hat, kann von ihm nur in Bildern und Metaphern geredet werden. Schon das Wort „erschaffen“ ist eine aus dem Bereich menschlicher Produktion „ausgeliehene“, nur in „übertragenem“ Sinn brauchbare Sprachfigur. Für die uns geläufigen Begriffe „Welt“, „Kosmos“ oder „Natur“ gibt es in der Bibel kein entsprechendes Wort. Vollends muss man sich klar machen, dass die Vorstellung einer sukzessiven Entwicklung der Gattungen und Arten ein für die ganze Antike unvollziehbarer Gedanke war (den auch wir erst seit Giordano Bruno und Darwin kennen). Da die Bibel ein von Menschen geschriebenes Buch ist, hat sie uneingeschränkt Anteil an den weltbildhaften Vorstellungen einer vergangenen Zeit, und in diesem Rahmen ist gar nichts anderes denkbar, als dass Pflanzen und Tiere sozusagen „auf einen Schlag“, so wie wir sie heute kennen, aus der Hand ihres Schöpfers hervorgegangen sind (Theorie der Konstanz der Arten).
Es ist unbestreitbar, dass die biblischen Autoren in ihrer Darstellung der Schöpfung einen sehr direkten Gebrauch von den Naturerklärungen ihrer Zeit gemacht haben. „Es kann keinem Zweifel unterliegen“, schreibt Gerhard von Rad in einer der besten Auslegungen von Gen 1, „dass der Schöpfungsbericht nicht ausschließlich theologische, sondern auch Naturerkennt-nisse vermitteln will. … Die Theologie hatte eben in der damaligen Naturerkenntnis ein Instrument gefunden, das ihr völlig angemessen war.“[13] Das aber ist keineswegs mehr das unsere. Wir leben in einer anderen Zeit, und nichts kann uns nötigen, die Bibel als ein physikalisches oder biologisches Lehrbuch zu lesen. Ihre Aussage liegt auf einer anderen Ebene.
Hinzu kommt ein Zweites: Das Thema der Schöpfung wird sehr viel breiter entfaltet, als eine Konzentration auf die beiden ersten Kapitel unserer Bibel erkennen lässt. Es wird in den Psalmen, im zweiten Jesajabuch und in den weisheitlichen Überlieferungen (etwa den großen Schlussreden des Hiobbuches [Hi 40-41]) aufgenommen, Texten, die Jahrhunderte weit auseinanderliegen und von sehr verschiedenen Standorten her mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen arbeiten. Heißt es in Gen 2, dass Gott wie ein Töpfer den Menschen aus Lehn bildete, so list man in Ps 139,15: „Mein Gebein war dir nicht verborgen, da ich im Dunkeln gebildet ward, kunstvoll gewirkt in Erdentiefen.
Zu einer förmlichen Lehre ist es erst in frühchristlicher Zeit gekommen, als man die breite Palette biblischer Aussagen auf die Texte einengte, die für das Reden vom Heil notwendig erschienen. Wichtig und wesentlich blieb nun allein die eine Linie, die von der Schöpfung zum Sündenfall und schließlich zur Erlösung führt, also der Zusammenhang von Gen 1 – 3, den allein wir darum auch in den Darstellungen der Kunstgeschichte wiederfinden. Jetzt erst wurde der Vorgang der Schöpfung ein für allemal auf das Sechstage-Werk, festgelegt, das mit der Erschaffung des Menschen seinen Höhepunkt und Abschluss erreicht. Hier war in einer großartigen Einseitigkeit von allem abgesehen, was als grundlegend für Welt und Mensch in der biblischen Urgeschichte ausgesagt wird.
Nimmt man dies alles zusammen, dann fällt vor allem eines auf: Die Erschaffung der Welt durch Gott ist im Alten Testament kein Glaubenssatz! In den Bekenntnisformulierungen der hebräischen Bibel (etwa Dtn 26,5-9) kommt die Schöpfung oder der Glaube an einen Schöpfer nicht vor. Warum? Weil es eine andere Möglichkeit der Weltentstehung, eine Alternative zu der von Gott gesetzten Wirklichkeit, nicht gab. Die Menschen des Alten Testaments „brauchten nicht zu glauben, dass die Welt von Gott geschaffen ist, weil das eine Voraussetzung ihres Denkens war“[14], eine Voraussetzung, die sie mit der ganzen Welt des Alten Orients teilten.
2.1 Wann sind sie Schöpfungsberichte entstanden?
Die Theologie hat erhebliche Mühe und auch Scharfsinn darauf verwandt, aus den verschiedenen Erzählungen, Hymnen und Disputationen ein Bild der Entstehung und Herkunft der Schöpfungsüberlieferungen zu rekonstruieren. Es liegt auf der Hand, dass das nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden, der Prüfung vorab entwickelter Hypothesen im Experiment geschehen kann, obwohl Forschungshypothesen auch hier eine beachtliche Rolle spielen. Das wissenschaftliche Instrumentarium, die historisch-kritische bzw. historisch-narrative Methode, sucht wie der Archäologe in einem Ruinenfeld Hinweise auf das Alter der Texte, charakteristische Stilmerkmale, mögliche Fremdeinflüsse, ursprüngliche Adressaten- und Leserkreise usf. zu gewinnen. Hinzu kommt – für unser Thema von besonderer Bedeu- tung – die Religionsgeschichte, die Aufschluss geben kann über Parallelen, vielleicht auch Abhängigkeiten von und in anderen Kulturkreisen.
Das erste und wichtigste Ergebnis der bis heute andauernden Forschungsarbeit besteht in der Erkenntnis, dass wir es in den Anfangskapiteln unserer Bibel mit zwei verschiedenen (ca. 4 Jh.e auseinander liegenden) Quellen zu tun haben. Die ältere Paradieserzählung (Gen 2,4b-25) stammt aus einem ausgesprochen kontinentalen Lebensbereich. Hier zeigt die Erschaffung des Menschen Gott in kühner Anschaulichkeit wie einen Töpfer mit der Ausformung seines Werkstücks beschäftigt, eine Vorstellung, die im Hiobbuch und in den Psalmen wiederkehrt: „Deine Hände haben mich kunstvoll gemacht und gebildet“ (Hi 10,8), die aber sehr viel älter ist und bereits im babylonischen Gilgamesch-Epos bei der Erschaffung Enkidus begegnet. – Ganz anders der jüngere Bericht der sog. Priesterschrift (Gen 1), den man heute auf die Zeit des Exils (6.Jh. vor Chr.) datiert. Er hat ein ausgeprägtes kosmologisches Interesse, führt seine LeserInnen in einer bis ins Detail wohlüberlegten Systematik über die Entstehung der kosmischen Räume, der Pflanzen- und Tierwelt bis hin zur Erschaffung des Menschen. Dabei lässt er die handwerkliche Vorstellung der fabricatio mundi weit hinter sich und spricht stattdessen von der Schöpfung durch das Wort. Die weltüberlegene Transzendenz Gottes findet darin einen angemessenen Ausdruck, doch hat auch sie einen weiträumigen religionsgeschichtlichen Hintergrund.[15] – Wieder andere Akzente werden in der späten Weisheit gesetzt, die am ehesten unseren wissenschaftlichen Vorstellungen entgegen kommt. Im Buch Hiob, den Proverbien und einigen Psalmen (bes. Ps 104) konzentriert sich das Nachdenken auf die rationale Seite der Schöpfung, ihre erkennbaren Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen: den Gang der Gestirne, die Stabilisierung der Erdscheibe auf den Urgewässern, die Herkunft des Schnees, den Kreislauf des Wassers, die Gewohnheiten der wilden Tiere und anderes mehr. Man hat die Weisheit mit der ägyptischen Gottheit Maat verglichen, die das Recht und die Weltordnung verkörpert.[16] Auch wenn man von einer direkten Parallele nur unter Vorbehalt reden kann, so ist die Stilanlehnung dieser Texte an ägyptische Vorbilder unverkennbar. Sie arbeiten Hand in Hand mit der Wissenschaft ihrer Zeit und haben ihre Gegenstände, auch deren Abfolge, unmittelbar den naturkundlichen Listenwissenschaften Ägyptens, den sog. Onomastiken, entnommen. Über Aussageabsicht und -ziel der Schöpfungsberichte und -hymnen ist mit diesen religionswissenschaftlichen Hinweisen indessen noch nichts gesagt.
2.2 Gibt es ein Darstellungsprinzip („Weltbild“) der Schöpfung?
Dass sich das biblische Weltbild mit der Erde als Scheibe und dem sie überwölbenden Himmel tiefgreifend von unserm modernen Wissensstand unterscheidet, muss man nicht eigens betonen. Doch schließt das nicht aus, dass der Grundriss der Schöpfung, ihr Weltentwurf, auch hier einer überlegten inneren Ordnung folgt, die ich am Beispiel von Gen 1 kurz skizzieren will: Es ist einleuchtend, dass die Schöpfung mit der Scheidung von Licht und Finsternis beginnt. Denn wie könnte sie als Sechs- bzw. Sieben-Tage-Werk dargestellt werden, wenn nicht zuvor der Rhythmus von Tag und Nacht erschaffen wäre? Wie aber soll man sich einen Reim darauf machen, dass die Pflanzen – ein altes Problem der Auslegung – vor Sonne und Mond erscheinen? Denn dass sie das Licht der Sonne zu ihrem Wachstum brauchen, wusste man auch in der Antike. Einem plausiblen naturgeschichtlichen Entwicklungsschema folgt der Aufbau von Gen 1 (entgegen den Annahmen des Kreationismus) offenbar nicht. Ihm liegt ein anderes Darstellungsprinzip zugrunde. Der Erzähler gliedert seinen Bericht so, dass er zuerst die Erschaffung der Lebensräume (Firmament = Himmel, Festland und Meer), danach die Erschaffung der ihnen zugeordneten Lebewesen vorführt.
Am Leitfaden der „Häuser“ (griech. oikoi) des Lebendigen wird die Schöpfung erstellt, - ein Prinzip der Anordnung, das man mit Fug und Recht ökologisch nennen darf. Die Gestirne, namentlich Sonne und Mond führen den Reigen der Lebewesen an. Sie gelten in der Antike als Götter, werden also zur belebten Kreatur gezählt. Sie „bewohnen“ das Firmament. Ihnen folgen die Wassertiere, die dem Lebensraum des Meeres, die Vögel, die dem Luftraum zugehören, und schließlich Landtiere und Menschen, die sich den Lebensbereich der Erde teilen müssen. Und die Pflanzen? Sie werden in dieser Systematik zum Lebensraum gezählt und unterstreichen so gewissermaßen den ökologischen Sinn der hier waltenden Logik. Denn wie könnte die Erde als Lebensbereich von Tier und Mensch angesprochen werden, wenn sie nicht mit der Nahrung gewährenden Pflanzenwelt ausgestattet wäre? Die Pflanzen also sind das Kleid der Erde und werden folgerichtig vor den Gestirnen erschaffen.
Ein zweites, noch tieferes Rätsel stellt sich mit dem ersten Schöpfungswerk, dem von Haydn so strahlend intonierten „Es werde Licht!“ Wie aber kann es Licht, wie Abend und Morgen werden, noch ehe Sonne und Mond geschaffen sind? Hier, so deutete ich an, wird der Rhythmus von Tag und Nacht erstellt, das Schema, in dem Zeitordnung und -messung möglich, in dem die Zeit selbst wirklich sein kann. Es trägt den Schöpfungsvorgang, und nur ihn, als Ausdruck einer „von Gott errichteten … und nur bei ihm auch fortbestehenden Ordnung“[17], so dass die Erschaffung der Gestirne als deren sichtbare Entsprechung begriffen werden muss. Die erfahrbare Zeit der Phänomene wird demnach bedingt und umschlossen gesehen von einer anderen Gestalt der Zeit, in der Gott selbst seiner Welt vorausgeht. Heißt es in Ps 19,2: „Die Himmel verkünden die Herrlichkeit Gottes“, also die Aura, die Gott selbst umgibt, so ist das ein Hinweis darauf, dass sich die Schöpfung dieser von vorn her auf sie zukommenden Zeit öffnet, dass sie nach Gott hin offen ist („sie alle warten auf dich“; Ps 104,27), metaphorisch geredet: dass sie im „Morgenglanz der Ewigkeit“ liegt und auf ihre Vollendung in einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“ (Jes 65,17) zugeht. Mit Bonhoeffer gesprochen: Sie ist ein „Vorletztes“, das auf das „Letzte“ bezogen bleibt. Systematisch müssen wir darum zwischen Natur und Schöpfung unterscheiden, eine Differenz, die der Kreationismus ebenfalls nicht kennt, sondern einebnet. Wiederum metaphorisch gesagt: Die Natur verliert ihre Toten, sie werden wieder zu Staub; die Schöpfung aber kann auch den Tod in sich aufnehmen, ohne die Toten zu verlieren: sie bewahrt sie zur Auferstehung am Ende aller Tage.
Wichtig ist also vor allem dies: Das Schöpfungswerk wird auf dem Grundriss einer zeitbestimmten Ordnung erstellt (Anschlußstelle für die Frage der Evolution!). Das unterscheidet sie von den mythologischen Darstellungen der vorderorientalischen Umwelt. Sie wird als ein zeitlich gegliedertes, auf den Fortbestand der Zeit hin ausgerichtetes Gefüge entworfen. Das Sechs-Tage-Werk ist ein Spiegel der hebräischen, auf den Sabbat zulaufenden Woche. Die Erfahrung der Geschichte hat den Rahmen und die Perspektive bereitgestellt, in dem und unter der vom Ursprung der Welt erzählt wird, und umgekehrt wird mit der Schöpfung der Prospekt der Geschichte eröffnet. Sie wird in einen Geschichtslauf einbezogen, der zur Berufung Abrahams führt (Gen 12) und sich (in der Prophetie Deuterojesajas) bis zur Heimkehr Israels aus dem Exil erstreckt.
2.3 In welchem Sinne ist die Schöpfung ein Anfang?
Die Bilder des Anfangs, die uns im Zeichen der Schöpfung überliefert sind, wollen zunächst als Gegenbilder zu der auch damals allgegenwärtigen Erfahrung einer zerbrechenden Welt verstanden werden. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass die berühmte Erzählung der Genesis nach allem, was wir wissen, erst in der Zeit des Babylonischen Exils, also sozusagen über den Trümmern Jerusalems aufgezeichnet ist. Sie ist die theologische Antwort auf die im Chaos der Verbannung versinkende Welt Israels. Angesichts des zerstörten Tempels, der Verwüstung des von Gott verliehenen Landes – die Gewalt der Vertreibung noch vor Augen – fragt man jedoch nicht primär nach den Rätseln der Kosmogonie. Der Blick ist aufs Überleben gerichtet. Das Reden von Schöpfung und Schöpfer ist das Reden des bedrohten Menschen in einer bedrohten Welt, nicht die Frage des Intellektuellen nach der prima causa des Universums. Das Thema der Schöpfung steht von Anfang an zwischen der unbeirrt festgehaltenen Erkenntnis einer wohlgeordneten Welt und der Erfahrung des Einbruchs menschlicher und außermenschlicher Gewalt. Zur Debatte steht also nicht, ob die Welt tatsächlich so entstanden ist, wie die Bibel es „lehrt“, sondern ob es einen Garanten ihrer Dauer und ihres Bleibens gibt. Wer im Sinne von Gen 1,1 nach ihrem Anfang fragt, muss sich daher von der Vorstellung naturgeschichtlicher Werdeprozesse trennen, die den Rückschluss auf ein Ursprungsdatum von Himmel und Erde nahe legen könnten. Die Schöpfung, von der die Bibel erzählt, lässt sich auf keine Weise wie ein naturhistorischer Anfang „verifizieren“. Diesen Anspruch hat die Bibel auch nie erhoben.
Genau hier liegt denn auch der theologische Grundfehler des Kreationismus. In der Meinung, die „Wahrheit“ der Bibel gegen eine gottlose Aufklärung zu verteidigen, setzt er sich über die Fragerichtung und damit über die Absicht der alten Texte hinweg. Er verfälscht deren Pointe, indem er historisiert, was historisch niemals gemeint war. (Es liegt ja auf der Hand, dass man nach Adam und Eva nicht in derselben Weise fragen kann wie nach David oder Jesaja. Sie sind nicht historisch einmalige Individuen, sondern Repräsentanten der Menschheit. Was sie verkörpern und was die Erzähler an ihnen beschäftigt, ist nicht das unverwechselbar Einmalige einer menschlichen Biographie, sondern das wiederkehrend Typische des menschlichen Daseins.) Der Urgeschichte kommt man mit der Frage: Was ist damals wirklich geschehen? überhaupt nicht bei.
Worum also geht es? Man kann das biblische Thema der Schöpfung vielleicht am einfachsten auf die Formel bringen: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Wachstum und Werden, Natur und Geschichte, ja „Erfahrung“ überhaupt möglich ist und gelingt? Wer den Anfang in der Radikalität der Genesis zu begreifen versucht, wird darum nicht schon an ein zeitliches ‚initium’ denken dürfen, sondern wird nach der Ermöglichung eines solchen Anfangs fragen, d.h. diesen Anfang als Anfang zu allen Anfängen in der Zeit verstehen müssen: als die keineswegs selbstverständliche Fähigkeit, überhaupt einen Anfang zu machen. Dazu gehören so elementare Gegebenheiten wie der Wechsel von Tag und Nacht, der Rhythmus von Saat und Ernte, aber auch die Institutionen der Ehe oder der Arbeit einschließlich aller Konflikte, die sie mit sich bringen. Hier werden die Konstanten freigelegt, in deren Rahmen sich das Dasein von Welt und Mensch vollzieht. Und sind das nicht auch die Bedingungen, unter denen allein es Wissenschaft gibt? Statt über die Erde zu verfügen, wird der Mensch in ein Gefüge von Bedingungen eingewiesen, von denen er abhängig bleibt, solange er lebt. Das ist der in Gen 1 beschriebene Anfang, dem er sein geschichtliches Dasein verdankt.
Darum erinnert uns die Bibel nicht zuletzt daran, dass die geschaffene Welt eine begrenzte Welt ist. Erschaffen heißt in Gen1 geradezu, Grenzen setzen (zwischen Chaos und Kosmos, Himmel und Erde, Festland und Meer) und dadurch definierte Verhältnisse und Beziehungen stiften, die der Grund dafür sind, dass sich das Leben durch Auswahl und Entscheidung von Möglichkeiten entwickelt. In diesem Netz definierter Beziehungen finden wir uns vor; es ist die unhintergehbare Basis alles Lebens, weshalb seiner Erschaffung auch in Zukunft – alle zweideutigen „Erfolge“ unserer Genetik eingerechnet – kein menschlicher Schöpfungsakt an die Seite zu stellen sein wird. Zugleich ist damit eine fundamentale anthropologische Einsichtausgesprochen: Wir sind nicht ins Grenzenlose, sondern an eine bestimmten Ort im Raum und in der Zeit gestellt. Geschöpf sein heißt in Grenzen existieren.[18] Die Endlichkeit ist seine Auszeichnung, nicht ein zu behebender Mangel. So werden wir – man halte sich an den 104. Psalm – auch mit unserer unbestreitbaren Kunstfertigkeit und Macht gleichsam zurückgenommen auf die elementare Ebene kreatürlicher Freude, Arbeit und Not, mit allem Lebendigen einbezogen in das Warten auf Gott (V.27), dessen Atem wir mit jedem Sonnen- aufgang den Anfang unseres geschöpflichen Daseins verdanken
2.4 Kann die Theologie die Evolutionslehre akzeptieren?
Der Streit zwischen Evolutionsbiologie und Schöpfungsglaube war von Anfang an ein weltanschaulicher Konflikt. Dafür sprechen am deutlichsten die geradezu gegensätzlichen Argumente, die die Theologie gegen die revolutionär neue Lehre ins Feld geführt hat. Der klassische ältere Einwand richtete sich gegen die (faktisch weit überschätzte) Rolle des Zufalls im Verlauf der Evolution. Genau umgekehrt sah man sich ein halbes Jahrhundert später genötigt, mit dem Protest gegen einen lückenlosen Determinismus auf Ernst Haeckels „Welträtsel“ zu reagieren. Beide Fronten sind wissenschaftlich längst überholt. Sie sind aber auch theologisch unhaltbar. Sie hätten ja nur dann ein Recht, wenn die Bibel – so das historistische Missverständnis – den Schöpfungsvorgang, insbesondere die Erschaffung des Menschen, auf eine bestimmte Vorstellung festgelegt hätte. Doch abgesehen davon, dass von dem Wie dieses Vorgang kein Wort verlautet – er ist uns (eine unübersteigbare Grenze theologischen Wissens!) gänzlich entzogen – warten die einschlägigen Texte mit einer Vielfalt unterschiedlichster (auch mythologischer) Bilder auf, um das Unbegreifliche menschlicher Anschauung irgendwie nahe zu bringen. Hier lässt sich nichts dogmatisieren, hier hat die wissenschaftliche Erkenntnisbemühung eine unanfechtbaren freien Raum. Gerade dort, wo im 19. Jahrhundert die Gegensätze am unversöhnlichsten aufeinander prallten, in der Frage der Evolution, wird das Gespräch heute mit der größten Verständigungsbereitschaft für die Fragen des anderen Partners geführt.
Dass die Annahme einer schrittweisen Entwicklung der Welt, insbesondere der Gattungen und Arten alles Lebendigen, dem freien Handeln Gottes nicht widerspricht, ihn als Schöpfer des Universums nicht in Frage stellt, wird heute nahezu von allen Theologen mühelos zugestanden. Man lernt die Evolutionstheorie als das „Konzept seiner Welt“ zu verstehen, „die allezeit im Werden begriffen ist“[19], d.h. als das Angebot einer „Theorie der Geschichtlichkeit der Natur“[20], die deterministische Erklärungsmodelle grundsätzlich hinter sich lässt. Damit ändert sich zwangsläufig die Frage nach Gott. Der Anfang von Gen 1 löst sich in evolutiver Sicht auf in eine Fülle von Neuanfängen, so dass die Theologie mit ihren Überlegungen dort ansetzen muss, wo sie früher vom Werk der Erhaltung, Begleitung und Vollendung der Schöpfung gesprochen hat. Das ist, formal geurteilt, kein wirkliches Problem, denn gerade so wird der eine Anfang ja tatsächlich als „Anfang zu allen Anfängen“ ernst genommen. Nur eben. Wie lässt sich das denken? Wenn das biblische Reden von der Schöpfung und das Konzept der Evolution „grundsätzlich kompatibel“ sind (Bosshard), dann muss das an der schwierigsten Stelle, der Theorie der Selbstorganisation gezeigt werden, Das aber bedeutet: wir brauchen – und man sollte das offen aussprechen – über Gen 1 hinaus einen Schlüssel, der zu diesem Schloss passt. Wer oder was ist das „Selbst“ der Selbst-organisation?
Dazu noch ein paar kurze Bemerkungen: Die Bibel geht in allen Überlieferungsschichten von der Welttranszendenz Gottes aus. Erschaffen – ob in der Form erstmaligen Hervorbrin-gens oder nachfolgenden Gestaltens – ist dann immer ein Handeln bzw. Eingriff von außen. Es scheint aber hoffnungslos verwirrend zu sein, wollte man sagen, ein biologisches oder physikalisches Ereignis, sei es der Urknall oder eine Mutation, finde deshalb statt, weil Gott es von außen angeordnet oder bewirkt habe. Die neuen Interpretationsversuche, angefangen von dem enthusiastischen Entwurf Teilhard de Chardins, gehen daher von einer Weltimmanenz Gottes aus. Sein schöpferischer Geist wird energetisch als die Innenseite der Materie begriffen, die die Evolution vorantreibt. Die amerikanische, von dem Mathematiker und Philosophen Alfred N. Whitehead angestoßene Prozesstheologie rechnet in ähnlicher Weise mit zwei dem Weltprozess immanenten „Naturen“ Gottes, einer „primordial nature“, kraft der er das Ziel der Entwicklung vorgibt, indem er jede „entity“ zu dem für sie optimalen Zustand „überredet“, und einer „consequent nature“, kraft der er mitempfindend (als „fellow sufferer“) das Werden der Welt begleitet, die Welt gleichsam physisch empfindet und sich dadurch von ihr abhängig macht. Das Problem ist dann in beiden Fällen dasselbe: Gott wird bis zur Selbstpreisgabe in seine Schöpfung hineingezogen mit der Folge, die Whitehead als Philosoph risikolos formulieren kann: „Es ist genau so wahr zu sagen, dass Gott die Welt erschafft, wie zu behaupten, dass die Welt Gott erschafft.[21]
Mit dieser Konsequenz wird sich die Theologie nicht abfinden können. Sie würde Gott als ihr kritisches Gegenüber verlieren. Und so mag der Hinweis auf diese Aporie einstweilen nur erläutern, was für die Theologie wie für jede Wissenschaft gilt: Auch sie kann nur einen Teil der umfassenden Wirklichkeit unter der ihr eigenen Perspektive erfassen. Auch ihr Nach- denken ist ein offener Suchprozess.
3. Die These des Intelligent Design: ein versteckter Gottesbeweis?
Es lässt sich nicht bestreiten, dass die These des Intelligent Design – anders als der Kreationismus – zentrale theologische Fragen aufwirft und zwar in einem ernsthaften Gespräch mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft: Ist die Welt das zufällige Produkt physikalischer und biochemischer Vorgänge, das willkürliche Resultat von Versuch und Irrtum ohne tieferen Sinn und Bedeutung? (R.Dawkins) Ist der Mensch „das Ergebnis eines rein materiellen Prozesses ohne Zweckbestimmung und Absicht“? (George Simpson) Oder steht hinter alledem ein planvoller schöpferischer Wille, von dessen verborgener Wirksamkeit die besten Physiker des letzten Jahrhunderts überzeugt waren? „Ein tiefer Naturwissenschaftler“, schrieb Albert Einstein, „vermag sich nicht vorzustellen, dass die ungemein feinen Zusammenhänge, die er erschaut, von ihm zum ersten Mal gedacht werden. Nein: Im unbegreiflichen Weltall offenbart sich eine grenzenlose Vernunft.“[22] Von Walter Nernst ist der Satz überliefert: „Physik treiben heißt, dem Schöpfer hinterhersehen.“
3.1 Thema und Problem
Die Evolution wird von der Theorie des Intelligent Design selbstverständlich anerkannt. Doch angesichts der wachsenden Einsicht in die Komplexität des Lebens geraten viele mechanistischen Vorstellungen, auch die Erklärungskraft der Darwinschen Grundpfeiler (Mutation und Selektion) ins Wanken. Karl Popper ging sogar so weit und nannte die klassische Evolutionstheorie eine „metaphysische Hypothese“, da sie wesentlich theoretischer Natur sei und sich empirisch weder verifizieren noch falsifizieren lasse. So hat Simon Conway Morris, Paläobiologe aus Cambridge, in einem jüngst erschienenen Buch („Jenseits des Zufalls“) darzulegen versucht, warum die Darwinschen Prinzipien allein die Vielfalt und Ordnung des Lebens nicht erklären, geschweige denn in ihrem Sinn erschließen können. Dem Leben müsse ein Plan zugrunde liegen, der es auf ein Ziel hinlenkt.
Ein weiteres in diesem Zusammenhang immer wieder diskutiertes Beispiel ist das unter Physikern nicht unumstrittene sog. „anthropische Prinzip“, die Tatsache, dass einige wenige Naturkonstanten, nämlich die Lichtgeschwindigkeit, das Massenverhältnis von Elektron zu Proton, die Gravitations- und Feinstrukturkonstante gemeinsam mit den klassischen Natur- gesetzen für die Möglichkeit des Lebens unverzichtbar sind.[23] Wäre etwa die Gravitations -konstante nur 2 Stellen hinter dem Komma kleiner, könnte die Erde ihre Atmosphäre nicht festhalten; Leben wäre unmöglich. Die tatsächlich gegebene Feinabstimmung (fine tuning) dieser Konstanten beschreibt also die Bedingungen, unter denen allein Leben entstehen kann. Sollte dieses Zusammenspiel, so die naheliegende Frage, Zufall sein? Ein weiteres, nicht weniger erstaunliches Forschungsresultat erläutert der Physiker Walter Thirring. Er beschreibt die Zielgenauigkeit des Urknalls und kommt zu dem Ergebnis: Wäre er nur geringfügig stärker ausgefallen, gäbe es uns nicht, wäre er schwächer gewesen, gäbe es uns auch nicht. Wiederum: Reiner Zufall?
Jenseits unseres berechtigten Staunens angesichts dieser Phänomene stellt sich zunächst die Frage, was man aus ihnen tatsächlich schließen kann. Kann, so lautet ein physikalischer Einwand, ein souverän ordnender Geist (ein intelligent designer, wie immer man sich ihn vorstellen mag) überhaupt auf Materie einwirken? Ein durch Naturgesetze bestimmtes Werden und das Wirken eines „geistigen Prinzips“, das die antike Philosophie bis hin zu Thomas von Aquin in Form einer immanenten Teleologie der Natur gleichsam eingestiftet sah, seien unaufhebbare Widersprüche (R.Dawkins). Dagegen lässt sich immerhin fragen, wer die Naturgesetze und -konstanten für welchen Zweck gerade so geordnet hat. Der Preis jedenfalls ist hoch, wenn man der Materie die Offenheit absprechen wollte, durch ein geistiges Prinzip bestimmt zu werden. Ulrich Eibach, Theologe und Ethiker, hat zweifellos Recht, wenn er dekretiert: „Wenn es kein Bestimmtwerden der Materie durch geistiges Sein gibt, dann kann es kein Wirken Gottes in dieser Welt geben“[24], so wie es die Bibel mit der Erschaffung der Welt durch Gottes Wort und Geist beschreibt (selbst wenn Gott seiner Schöpfung die Freiheit einräumt, ihre Gestaltenvielfalt selber zu „organisieren“ - gemäß dem schönen Diktum von Teilhard de Chardin: „Dieu faisant se faire les choses“). Ich selbst jedenfalls neige zu der These, dass Materie und Geist zwei gleichursprüngliche Realitäten unserer Welt sind.
So umstritten diese Fragen und Thesen heute (noch) sind: Das eigentliche Problem des Intelligent Design liegt nicht hier, sondern an einer anderen Stelle. Problematisch ist die Richtung (und damit auch die Stringenz) des hier intendierten Schlusses von der Welt auf ihren schöpferischen Grund. Sie erinnert an ähnliche Argumentationsfiguren, die Paul Davies entwickelt hat: Er fragt: „Warum ist die Welt so, wie sie ist“?[25], um dann eine passgenaue Antwort auf die Frage nach dem ihr gemäßen Gott zu bekommen. Schon die erste Frage ist jedoch keine wissenschaftliche, d.h. durch Wissenschaft entscheidbare Frage, sondern eine metaphysische Problemstellung, die sich kosmologisch weder angemessen noch sinnvoll bearbeiten lässt, sondern die auf dieser Ebene nur dazu führt, das metaphysische Thema auf problematische Weise in einen Gegenstand der Physik zu transformieren. Hier nimmt sie zwangsläufig dann die Gestalt der Frage an: Wie muss der (rational verstehbare) Aufbau der Welt gedacht werden, damit ein Gott denkbar ist? – und damit verfangen sich die physikalischen Erklärungsversuche in den in den Alternativen der metaphysischen Tradition. Denn als zuverlässiger Erklärungsgrund des Kosmos muss nun auch Gott der Forderung des „so und nichts anders“ unterliegen. Diese Schwierigkeit spiegelt sich auf dem Boden inhaltlicher physikalischer Erklärungen in einer Fülle von Äquivokationen. Kann etwa die viel diskutierte Hypothese des „Urknalls“ das Rätsel des biblischen Anfangs auflösen? Dagegen spricht schon auf der Ebene der Physik, dass sich die Rekonstruktion dieser Hypothese im Dunkel verliert, sobald man bezweifelt, „ob die uns zugänglichen Naturgesetze (hier) als herrschend angenommen werden dürfen“.[26]
Der theologische Einwand wiegt noch schwerer. Der Hinweis auf den schöpferischen Willen Gottes, der dem Universum diese und keine andere Ordnung gegeben hat, stammt erklärtermaßen nicht aus dem Erfahrungsbereich der Physik. Er ist ein Argument der Schöpfungstheologie. Der vom Intelligent Design gemeinte und zu hier leistende Brücken-schlag aber müsste eine physikalische bzw. biologische Basis haben. Er ist ohne ein teleologisches Argument nicht zu bewältigen. Physikalischen Gleichungen und biochemischen Analysen lässt sich jedoch kein Hinweis auf ein Telos der Welt entnehmen. Sie sind zu formal, als dass sich eine ‚Konsonanz’ mir theologischen Aussagen, die diesen Namen verdient, standfest begründen ließe.
Das Problem dieser sympathischen These ist der unausgesprochene Versuch, auf der Basis unserer Naturerkenntnis noch einmal einen indirekten Gottesbeweis zu führen, ein Unter - nehmen, das schon Kant als eine prinzipiell unbeweisbare Unterstellung unseres Denkens abgewiesen hat.[27] Denn zur Wissenschaft im neuzeitlichen Sinne ist die Naturerkenntnis erst durch den methodischen Verzicht auf die Arbeitshypothese „Gott“ geworden. Die „theolo- gischen“ Bemühungen auch der einsichtsvollsten Forscher, sind – so gesehen – der paradoxe Versuch, den „verlorenen“ Gott auf einer atheistischen Basis zurückzugewinnen. Psycholo-gisch gesprochen: Wir suchen die Antwort auf die Orientierungskrise der gegenwärtigen Situation in den Wissenschaften, also genau dort, wo diese Krise ihren Anfang genommen hat: in jener Überschätzung der Naturwissenschaften, die das, was dort an Wahrheit gefunden und erkannt werden kann, mit Wahrheit überhaupt identifiziert.[28] Was folgt daraus? Von der Erkenntnis, oder richtiger: von der Gewissheit, dass die Welt „durch Gottes Wort geschaffen ist“ (Hebr 11,3), kann man nur herkommen. Sie ist nicht das Resultat möglicher Schlußfolgerungen. Die Argumentationsrichtung muss umgekehrt werden. Wir kennen Gott aus anderen Quellen als der Physik: aus Bibel und Gottesdienst, und was wir unternehmen können, ist der Versuch, die Spuren seines Wirkens bei und in unseren Forschungen zu entdecken, sie gewisssermaßen in der Natur wiederzufinden. Diesen Weg hat die biblische Weisheit vom Buch Hiob bis zur Bergpredigt beschritten: „Frage doch das Tier, es wird dich lehren / und die Vögel des Himmels, sie werden dir’s anzeigen … Wer wüsste nicht Bescheid von dem allen, dass Gottes Hand dies gemacht hat?“ (Hiob 12,7-9) Dass die Welt eine theologische Aussage hat, lässt sich gar nicht bestreiten.
3.2 Wo haben wir die „Wahrheit“ der Schöpfungsaussagen zu suchen?
Wer von der Schöpfung redet, bewegt sich im Feld der Theologie. Physiker und Biologen sprechen von der Natur, wenn sie den gleichen Sachverhalt meinen. Es sind zwei verschiede Perspektiven, in denen sich die Welt hier und dort unter einer spezifischen, je anderen Beleuchtung zeigt. Man kann nicht fragen, welches die richtige oder gar die „wahre“ Perspektive ist. Es kommt darauf an, wo man steht. „Entscheidend für die Deutung von Erkennt-nissen der Naturforschung“, resumiert Eibach, „sind also die aus der Forschung und ihren Ergebnissen selbst nicht ableitbaren Vorverständnisse und Lebenseinstellungen der Forscher, also nicht zuletzt die Glaubens- oder Unglaubensüberzeugungen“, auf deren Hintergrund sie interpretieren.[29]
Die Frage drängt sich auf, ob der Standort des Theologen sich einem besonderen Offenbarungswissen verdankt. Offenbarung bedeutet Enthüllung, das Hervortreten eines Verborgenen, die Verkündigung des Unbekannten. Gott selbst hat sich auf diese Weise „offenbart“ (Ex 3,6ff.). Von einer solchen expliziten Kundgabe der Schöpfung kann jedoch im Alten Testament nicht gut geredet werden. So kennt die Schöpfung keine Sonderung der Daseinsbereiche in „heilig“ und „profan“. Was hier zur Sprache kommt, hat mit den durch Offenbarung begründeten Themen „Erwählung“ und „Bund“ unmittelbar noch nichts zu tun. Während das Bekenntnis zum Gott Abrahams Israel von der Völkerwelt trennt, schließt die Urgeschichte Israel mit seiner „heidnischen“ Umwelt zusammen. Die Schöpfung liegt allen Menschen in gleicher Weise offen vor Augen. Auf ein exklusives, nur Israel geltendes geoffenbartes „Geheimwissen“ beruft sich die Bibel an keiner Stelle.
Dennoch geht die Bibel wie selbstverständlich davon aus, dass die Schöpfung eine Aussage hat, ja sogar Wahrheit entlässt, dass es durchaus nicht unmöglich ist, in ihren Spuren zu lesen.[30] „Was man von Gott erkennen kann, ist unter (allen) Menschen offenbar“, schreibt Paulus, „denn Gott hat es ihnen offenbart. Sein unsichtbares Wesen … ist seit der Erschaffung der Welt an und in seinen Werken deutlich zu erkennen.“ (Röm 1,19). „Gott hat sich in seiner ganzen Schöpfung in einer Weise öffentlich dargestellt und tut es noch heute“, sekundiert Calvin, „dass die Menschen ihre Augen gar nicht auftun können, ohne ihn geradezu erblicken zu müssen“ (Inst I,5,1); denn die Welt ist “Schauplatz und Bühne seiner Herrlichkeit“. Dass uns dieses Sehen mit einem wissenschaftlich geschulten Blick die Augen noch für ganz andere Wunder der Schöpfung öffnet, als man in biblischer Zeit ahnen konnte, und so die Möglichkeit des Glaubens an einen schöpferischen Gott auch auf dem Boden der Wissenschaft offen hält, sollte man den Vertretern des Intelligent Design nicht absprechen. Man wird es würdigen müssen, auch wenn ihr Anspruch, auf diese Weise das Wirken Gottes oder gar seinen „Plan mit der Welt“ (P.Davies) beweisfähig zu machen, zum Scheitern verurteilt ist.
[1] D.Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Neuausgabe, München 1977, 393.
[2] V.von Weizsäcker, Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, Göttingen 19636 , 26.
[3] H.Fritzsch, Vom Urknall zum Zerfall, München 1994, 325.
[4] J.Audretsch, Der Blick aufs Ganze, in: J.Audretsch / H.Weder, Kosmologie und Kreativität. Theologie und Naturwissenschaft im Dialog, Leipzig 1999, 44f.
[5] Ebd. 38.
[6] „In der Naturwissenschaft ist die zentrale Ordnung daran zu erkennen, dass man … solche Metaphern verwenden kann wie ‚die Natur ist nach diesem Plan geschaffen’ . Und an dieser Stelle ist mein Wahrheitsbegriff mit dem in den Religionen gemeinten Sachverhalt verbunden“, W.Heisenberg, Positivismus, Metaphysik und Religion, in: Ders, Der Teil und das Ganze, München Zürich 19815, 292. Vgl. dazu U.Eibach, Falsche Fronten: Der Streit um „Intelligent Design“, in: Zeitzeichen 8,2007, Heft 9, 12ff.
[7] Dazu: Chr.Link, Eine Wirklichkeit – zwei Welten. Über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Welt- interpretation, in: :Schneider / F.Vogelsang (Hgg.), in welcher Wirklichkeit leben wir?, Neukirchen 2007, 63-75.
[8] H.Fritzsch, a.a.O. 325.
[9] C.F. von Weizsäcker, Komplementarität und Logik, in: ders., Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 196310, 284.
[10] R.Descartes, Die Prinzipien der Philosophie III (1647),2 (PhB 28), Hamburg 1965, 64.
[11] In neuerer Zeit haben sich auf unterschiedliche Weise A.N.Whitehead, Die Funktion der Vernunft (1929), Nachdruck: Stuttgart (Reclam) 1974, und H.Jonas, Organismus und Freiheit, Göttingen 1973, mit guten Gründen für eine Rehabilitation der Finalität eingesetzt.
[12] So: C.F. von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 1964, 128.
[13] G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, Band I, München 19624, 161f.
[14] C.Westermann, Schöpfung. Themen der Theologie. Stuttgart 1971, 14.
[15] Im babylonischen Weltschöpfungs-Epos ‚Enuma elish’ beweist Marduk seine göttliche Macht, indem er durch sein befehlendes Wort einen Gegenstand ins Dasein ruft und wieder verschwinden lässt, und näher noch scheint sich Gen 1 mit Zügen der altägyptischen „memphitischen“ Theologie zu berühren, derzufolge der Allgott Ptah auch die Götterneunheit (einschließlich des Sonnengottes Re) durch sein Wort erschafft. Vgl. G.von Rad, a.a.O. (Anm. 13), 157.
[16] H.H.Schmid, Gerechtigkeit als Weltordnung. Hintergrund und Geschichte des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs, Tübingen 1968; etwas zurückhaltender: J.Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990, 164ff.
[17] O.H.Steck, der Schöpfungsbericht der Priesterschrift, Göttingen 1975, 210; zum Ganzen auch: Chr.Link, Schöpfung, HST 7/2, Gütersloh 1991, 360ff.
[18] Vgl. hierzu die hellsichtige Interpretation von D.Bonhoeffer, Schöpfung und Fall (1932/33), München 1968, 59f. bes. 84ff.: „Die Grenze des Menschen ist in der Mitte seines Daseins, nicht am Rand“ (ebd.60).
[19] S.N.Bosshard, Erschafft die Welt sich selbst?, QD 103, Freiburg 1985, bes. 191ff.
[20] G.Altner, Die Überlebenskrise in der Gegenwart, Darmstadt 1987, bes. 86ff.
[21] A.N.Whitehead, Prozess und Realität, Frankfurt 1979, 621.
[22] Das Zitat verdanke ich (ohne Quellenangabe) Herrn Hans Pilgram, Trier. In einer von Carl Seelig zusammengestellten Auswahl: „Albert Einstein, Mein Weltbild“, Zürich-Stuttgart-Wien 1953, 223, heißt es: „Es ist gewiss, dass eine mit religiösem Gefühl verwandte Überzeugung von der Vernunft bzw. der Begreiflichkeit der Welt aller feineren wissenschaftlichen Arbeit zugrunde liegt.“
[23] Dazu: R.Breuer, Das anthropische Prinzip. Der Mensch im Fadenkreuz der Naturgesetze, Frankfurt 194
[24] U.Eibach, Falsche Fronten, a.a.O. ( Anm.5), 14.
[25] P.Davies, Der Plan Gottes. Die Rätsel unserer Existenz und die Wissenschaft, Frankfurt 19962, 192ff.
[26] H.L.Harney, Was ist Zufall – Wirklichkeit oder Bild der Wirklichkeit?, in: R.Bernhardt / U.Link-Wieczorek (Hg), Metapher und Wirklichkeit (FS D.Ritschl), Göttingen 1999, 192ff.
[27] I.Kant, Kritik der Urteilskraft (1799), § 75; PhB 79 a, Hamburg 1959, 262ff.
[28] Zu diesem Problem: Chr.Link. Schwierigkeiten im Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie, in: Ders., In welchem Sinne sind theologische Aussagen wahr?, Neukirchen 2003, 143 – 160.
[29] U.Eibach, a.a.O. (Anm.6) 15.
[30] G. von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen 1970, bes.385, hat diesen Satz mit einer Fülle von Beobachtungen und Sentenzen belegt.
© Prof. Dr. Christian Link
Barth-Lektüre einmal anders – in einem Roman des amerikanischen Schriftstellers John Updike. Das Thema: Wort-Gottes-Theologie contra Kreationismus. Der Student Dale Kohler will die Existenz Gottes mit einem Computerprogramm beweisen. Professor Roger Lambert hält ihm entgegen: Ein Gott, den man „aus dem Herzen der Natur“ beweisen könne, mache den Glauben billig.