Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1697-1769)
Gerhard Tersteegen wird am 25. November 1697 als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns in Moers am Niederrhein geboren. Moers liegt im niederländisch-deutschen Grenzgebiet und hat in den letzten zweihundert Jahren unter verschiedenen Herrschaften gestanden. Dies bringt unterschiedliche kirchliche Einflüsse mit sich: auf der einen Seite den Protestantismus: ein Reformiertentum niederrheinischer und niederländischer Prägung sowie das Luthertum; auf der anderen Seite den spanischen und den deutschen Katholizismus. Die Menschen in Moers sind Grenzgänger; Tersteegen macht sich eine verbindende Irenik zu eigen.
Sein Vater ist vom reformierten Pietismus beeinflusst. Er stirbt, als Tersteegen sechs Jahre alt ist, und die Familie verarmt. Daher kann Tersteegen nach der Lateinschule nicht die Universität besuchen, sondern beginnt bei seinem Onkel in Mülheim an der Ruhr eine Ausbildung als Kaufmann.
Der Umzug nach Mülheim prägt sein Leben: In der ehemaligen Gemeinde Theodor Undereycks kommt Tersteegen mit dem mystisch-spiritualistischen Labadismus in Berührung, dort lernt er Hochmann von Hochenaus radikalen Pietismus kennen und befreundet sich mit dem von Hochmann bekehrten und von der Kirche abgewiesenen Theologiekandidaten Wilhelm Hoffmann.
1717 eröffnet Tersteegen sein eigenes Geschäft, doch das Kaufmannsleben sagt ihm nicht zu. Tersteegen sucht Ruhe und Kontemplation. Zwei Jahre später gibt er das Geschäft auf und arbeitet zunächst als Leinenweber, später als Seidenbandweber. Schon in dem Jahr seiner Geschäftseröffnung, 1717, übergibt Tersteegen sein Leben Christus; am Gründonnerstag 1724 verschreibt er sich an Christus. Er schreibt und unterzeichnet die Verschreibung, einen Brief an Jesus Christus, mit seinem eigenen Blut. Zuvor hat er nach langer Zeit der inneren Dunkelheit und einem Leben in völliger Askese Erfahrungen von Gottes Gegenwart und Liebe gemacht, die ihn von äußeren und inneren Zwängen befreien; er übergibt sich ganz der Führung Gottes.
Im folgenden Jahr gibt Tersteegen die gesundheitsschädliche strengste Askese auf und beginnt eine Lebensgemeinschaft mit seinem Freund Heinrich Sommer. Sein asketisch-klösterliches Leben wird vorbildlich für viele seiner Freunde. Die erste Wohngemeinschaft von Männern und Frauen, die ihr Leben in Gebet, Stille und Dienstfertigkeit verbringen wollen, wird 1727 in Otterbeck gegründet. Tersteegen ist der geistliche Führer der Gemeinschaft ("Pilgerhütte"), deren Hausregel er entwirft. Die Otterbeck trägt wesentlich zur Ausbreitung von Tersteegens Ideen bei.
Vermutlich ab 1725 hält Tersteegen bei Erweckungsversammlungen Ansprachen und Predigten. Die Predigttätigkeit wird später zu einem der wichtigsten Teile seiner Wirksamkeit. Er unternimmt zahlreiche Reisen zur persönlichen Seelsorge und zu Ansprachen in auswärtigen Versammlungen.
Zur reformierten Kirche hat er ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits spottet er über eine gedankenlos übernommene "Erbreligion", nimmt auch nicht an Gottesdiensten oder gar den Sakramenten teil, andererseits ist er deutlich vom reformierten Protestantismus geprägt und bezieht sich in seinen Schriften gern auf die Reformatoren, insbesondere wenn er sich rechtfertigen oder verteidigen muss. Gleichzeitig steht er der katholischen Mystik nahe. Seine Anhänger will er jedoch nicht vom Kirchbesuch abhalten, sondern achtet darauf, dass seine Ansprachen nicht gleichzeitig mit Gottesdiensten stattfinden. Auch will er keine eigene kirchliche Gruppierung gründen. Eine verbindliche Organisation ist seiner Meinung nach unnötig, wenn jeder Mensch durch die liebende Gegenwart Gottes in inniger Gemeinschaft mit Gott und mit seinen Brüdern und Schwestern leben kann. Dennoch entstehen Freundeskreise, vor allem am Niederrhein und im Bergischen Land.
Trotz mehrerer schwerer Krankheiten und körperlicher Gebrechen wird Tersteegen einundsiebzig Jahre alt. Er stirbt am 3. April 1769 im Kreis seiner Freunde.
Gerhard Tersteegen ist in erster Linie Seelsorger. 1728 gibt er seinen Beruf auf, um ganz als Seelsorger leben zu können. Aus seelsorgerlichen Motiven predigt er, schreibt Briefe, veröffentlicht seine Gedichte, Lieder und Sprüche, aus seelsorgerlichem Antrieb beginnt er, Arzneimittel herzustellen und an seine Freunde zu verteilen. Auch pflegt er Kranke und organisiert ein Hilfswerk, das sich u.a. um psychosomatisch Erkrankte kümmert. Die medizinische Tätigkeit nimmt einen großen Raum in seinem Leben ein, auch wenn er sie nicht hoch schätzt, da letztlich Gott über Krankheit oder Gesundheit entscheide.
Tersteegens Dichtung ist größtenteils nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern er wird von seinen Freunden überredet, die Sprüche und Gedichte zu veröffentlichen, um sie auch anderen nach Gott Suchenden zugänglich zu machen und so mehr Menschen auf den Weg zu Gott zu führen. 1729 erscheint die erste Fassung seines Gedichtbandes "Geistliches Blumengärtlein", drei Jahre später lässt er "Der Frommen Lotterie" drucken, einen weiteren Gedichtband. Die vorherrschenden Themen seiner Dichtung sind Gegenwart Gottes, Jesus-Lyrik, Heilsweg, Buße und Bekehrung sowie Brautmystik.
Neben eigenen Gedichten und Schriften veröffentlicht Tersteegen die Schriften quietistischer Mystiker, die ihm viel bedeuten und die er ins Deutsche übersetzt. Sein literarisches Lebenswerk aber sind die "Auserwählten Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen", die zwischen 1733 und 1754 erscheinen und Biographien katholischer Gläubiger vorstellen. Sie sollen die innere Führung durch Gott zeigen und so ihre Leser zu einem geistlichen Leben anregen. Nach Tersteegens Tod veröffentlichen seine Freunde Ansprachen und Briefe des reformierten Mystikers.
Tersteegens Theologie basiert auf einem relativen Dualismus, bei dem das Innerliche vom Äußerlichen getrennt ist. Allerdings sind beide so miteinander verbunden, dass das Äußerliche und die äußerlichen Hilfsmittel (Heilige Schrift, Kirche, Sakramente) zum Inneren führen können. Im Inneren aber findet der Mensch Gott. Gott ist im Herzen des Menschen gegenwärtig. Doch nicht nur dort steht der Mensch in Kontakt mit Gott, denn Gott ist allgegenwärtig. Alles, was der Gläubige tut, geschieht in ihm, Essen, Trinken, Danken, Loben, Leben. Im Inneren aber kann der Mensch Gott erkennen und zu ihm beten. Das Gebet besteht nicht im Formulieren schöner Sätze, sondern in der Wendung nach Innen.
Sünde ist die Abwendung von Gott, Hinwendung zur Welt. In Jesus Christus aber hat Gott den Menschen ganz ohne ihre Mitwirkung das Heil gegeben. Die Rechtfertigung des Sünders geschieht vor Gott und im Herzen der Menschen, dann auch vor anderen Gerechtfertigten. Des Menschen Weg zum Heil besteht aus Buße und Bekehrung. Dabei muss jeder Mensch diesen Weg individuell gehen; es gibt kein vorgegebenes Schema. Vielleicht ist Tersteegen auch deshalb die Seelsorge so wichtig, er begleitet jeden Gläubigen auf seinem persönlichen Heilsweg. Leiden kann auf diesem Heilsweg läuternd wirken, und es verbindet den Menschen mit Christus, der Karfreitag am Kreuz aus Liebe zu den Menschen gelitten hat. So wirken Gnade Gottes, Gebet, Selbstverleugnung und Leiden zur Heiligung des Menschen, der zu einer neuen Kreatur in Christus wird, indem er die Stufen der Heiligung durchschreitet. In der innigsten Gemeinschaft mit Gott, der unio mystica, wird der Mensch in Gott aufgenommen.
Tersteegens Schriften werden in frommen Kreisen, bei den "Stillen im Lande", viel gelesen und prägen die Frömmigkeit einer ganzen Generation. Gegen Anfang des 18. Jahrhunderts jedoch ist der mystische Dichter fast vergessen. Erst mit der Errichtung seines Grabdenkmals 1838 beginnt eine Tersteegen-Renaissance, sein 200. Geburtstag wird groß gefeiert. Seine Lieder werden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt in deutsche Gesangbücher aufgenommen. In den Niederlanden erfährt Tersteegen erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit; ebenso in den meisten anderen europäischen Ländern. Dagegen reicht sein Einfluss auf Amerika und Russland weiter zurück. Auswanderer importieren seine Schriften nach Amerika, in Russland findet vor allem seine Dichtung Anklang.
Die Zweite Freie Reformierte Synode in Siegen (1935)
Kampf gegen Neuheidentum und Gründung einer Hochschule für reformatorische Theologie
Am 26. März 1935 predigte Karl Barth abends in der überfüllten Siegener Nikolaikirche über das zweite Gebot: Du sollst dir kein Bildnis und Gleichnis machen ... Er bekannte sich zur Nüchtern- und Schlichtheit von gottesdienstlichen Räumen und Gottesdiensten, um sich dann gegen den schwer wiegenden „neuen Bilderdienst“ des „immer“ schon „besonders tiefsinnigen“ deutschen Volkes zu wenden. Die äußeren Bilder entstehen in den Herzen. Gemeint war der Götzendienst der Zeit. Vom Kreuz Jesu her stemmte sich Barth gegen den Geist der Zeit. Das war der Auftakt in der Nikolai- und Martinikirche! Die beiden Kirchen waren durch eine Konferenzschaltung verbunden.
Das Dritte Reich liegt uns ferne, rückt uns von Jahr zu Jahr ferner. Der totale Anspruch der nationalsozialistischen Ideologie auf das Leben der Menschen und auch auf die innere und äußere Gestaltung der Kirchen ist uns Heutigen fast unbegreiflich. Die Judenverfolgungen, die im Holocaust gipfelten, sind in unser kollektives Gedächtnis eingegangen, aber die Erinnerung daran stört viele. Der sogenannte „Kirchenkampf“ aber ist vergessen. In diese bittere Zeit zwischen 1933 und 1945 versetzt uns die Erinnerung an die Zweite Freie Reformierte Synode Siegen.
Der Reformierte Bund für Deutschland hatte mit Besorgnis die Eroberung der evangelischen Landeskirchen durch das nationalsozialistische Gedankengut erlebt. Handstreichartig und auch widerrechtlich hatten die Deutschen Christen, das waren Hitlers Gefolgsleute in der Kirche, in fast allen Landeskirchen die Macht übernommen und versuchten den Kirchen das Führersystem zu oktroyieren.
Der Reformierte Bund in Deutschland hatte seine ihm angehörenden Gemeinden schon am 3. und 4. Januar 1934 zu einer Freien reformierten Synode nach Barmen eingeladen und diese hatte sich die von Karl Barth verfasste „Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche der Gegenwart“ zu eigen gemacht. Diese Erklärung war ein sachlicher Vorläufer der ebenfalls in Barmen von der ersten (von vier) deutschen Bekenntnissynode abgegebenen Barmer Theologischen Erklärung am 31. Mai 1934.
Die Erinnerung an diese stand 2009 etwas im Schatten des Calvin-Jahres. Die beiden (einzigen) Freien Reformierten Synoden waren Stationen in der Kette der vielen freien Synoden im Dritten Reich, deren letzte die 12. Preußensynode in Breslau war, die in der Auslegung des fünften (bzw. sechsten) Gebotes – 1943! - äußerte: „Wehe uns und unserem Volk, wenn das von Gott gegebene Leben für gering geachtet wird, und der Mensch, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, nur nach seinem Nutzen bewertet wird; wenn es für berechtigt gilt, Menschen zu töten, weil sie für lebensunwert gelten oder einer anderen Rasse angehören, wenn Haß und Unbarmherzigkeit sich breit machen. Denn Gott spricht: Du sollst nicht töten ...“.
Der Oberfischbacher Pastor Hermann Barth hatte als Siegerländer Vertreter dem Moderamen des Reformierten Bundes den Vorschlag gemacht, zu einer erneuten Freien reformierten Synode im März 1935 einzuladen. Siegen schien als Tagungsort deswegen so gut geeignet, als das gut reformierte kirchliche Umfeld der Synode eine erhebliche Öffentlichkeit versprach, worin man sich nicht getäuscht hatte.
Wie eingangs gesagt, Karl Barth predigte in der Nikolaikirche und konnte damals letztmals in Deutschland während der Nazizeit in der Öffentlichkeit vor seiner im Juni erfolgten Zwangspensionierung sprechen. Drei Themen standen auf der synodalen Tagesordnung:
- die Sammlung der reformierten Gemeinden in Deutschland,
- die neuheidnische Religion im Gefolge der Nazifizierung des öffentlichen und privaten Lebens und
- Die Errichtung einer Hochschule für reformatorische Theologie.
In Kürze:
1. Moderator Hermann Albert Hesse legte hier „zehn Jahr vor dem Stuttgarter Schuldbekenntnis sein Schuldbekenntnis“ (so Manfred Zabel 1985) der Verstrickung in das widergöttliche und unmenschliche Denken und Tun der NS-Ideologie in der Kirche ab.
2. Hermann Barth aus Oberfischbach übernahm es kurzfristig (für Helmut Thielicke), über „Aufgaben der Kirche gegenüber dem Einbruch des Neuheidentums in die Gemeinden“ zu sprechen. Er wandte sich gegen den totalen Anspruch der nationalsozialistischen Weltanschauung, alle Bereich des öffentlichen und privaten Lebens zu besetzen. Er widmete sich kritisch Rosenbergs „Mythos des XX. Jahrhunderts“ und wandte sich gegen die „weltanschauliche Schulung“ in Rundfunk und Zeitungen, vor allem aber in Schulen und Hitler-Jugend. In ihrer Erklärung nannte die Synode die neuheidnische Religiösität eine „Verführung des Volkes“. Sie forderte ihrerseits die Freiheit der Evangeliumsverkündigung.
3. Wilhelm Niesel legte angesichts der Zerstörung der deutschen theologischen Fakultäten einen Plan zur Schaffung einer „Kirchlichen Hochschule für reformatorische (nicht reformierte!) Theologie“ vor. Bei der einzigen Gegenrede und Gegenstimme des im Siegerland damals sehr bekannten und beliebten Paul Humburg stimmte dem die Synode zu. Zwar hatte man gehofft, innerhalb von vier Wochen dieses Projekt zu verwirklichen und auch die finanziellen Mittel dafür aus Spenden und Kollekten bereit zu stellen und auf diese Weise Karl Barth in Deutschland zu halten. Doch die Bedenkenträger innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen waren erst einmal ein kaum zu überwindendes Hemmnis.
Immerhin, am ersten November 1935 – sieben Monate danach – sollte diese Hochschule mit den Zweigen Berlin und Wuppertal starten. Das nötige Geld war durch die Gemeinden aufgebracht! Staatlicherseits wurde diese kirchliche Hochschule sofort verboten, was z.B. nicht hinderte, in Wuppertal den heimlichen Anfang mit Dozenten, Studenten und Vertretern der Presbyterien im Dunkel einer Friedhofskapelle zu machen.
„Mystisch“ nannte einer der Studenten den Gottesdienst. Die verbotene Hochschule wurde der bestehenden Theologischen Schule in Elberfeld integriert. Das Glück des unbeschwerten Studierens dauerte nicht lange. Am 14. Dezember 1936 tauchte die Gestapo im Griechisch-Unterricht des Leiters der Theologischen Schule, Heinrich Graffmann, später Pfarrer in Niederschelden, auf und beendigte den gesamten Lehrbetrieb. Entschlossen wie man damals war, wurde nun in verschiedenen Kirchen ein „Wuppertaler kirchlicher Lehrgang“ durchgezogen, der gelegentlich auch in Bethel Unterschlupf fand.
Ein Himmler-Erlass vom 29. August 1937 beendete auch dieses Provisorium. Dennoch gab man nicht auf, sondern der Lehrbetrieb wurde aufrecht erhaltend durch Kurse in wechselnden Gemeinde- und Pfarrhäusern, wo auch die illegalen Prüfungen abgehalten wurden. Gestapo - Verhöre im Nachherein ließen nicht auf sich warten. 1941/42 verlieren sich die Spuren dieses Lehrbetriebs im Untergrund. Die theologische Ausbildung war damals spannender als ein Kriminalroman. 1945 setzten Berlin und Wuppertal sehr schnell wieder mit dem Lehrbetrieb ein. Und heute? Die Berliner Hochschule wurde in die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität nach der Wiedervereinigung integriert. Und die Wuppertaler unter finanziellem Druck mit der Bodelschwinghs 1905 gegründeten Betheler Hochschule vereinigt.
Die Siegener Synode hatte im Bereich der Lehre eine Langzeitwirkung von über zwei Generationen. Das Pfund, mit dem sie wuchern konnte, waren opferbereite Gemeinden, die sich verantwortlich wussten für das Bekenntnis und die entsprechende Ausbildung ihrer künftigen Pastoren und Pastorinnen. Der Akzent muss auf „Gemeinden“ liegen. Vivant sequentes! Die es der damaligen Generation nachtun, mögen leben!
Pfr. Ulrich Weiß