Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1697-1769)
Gerhard Tersteegen wird am 25. November 1697 als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns in Moers am Niederrhein geboren. Moers liegt im niederländisch-deutschen Grenzgebiet und hat in den letzten zweihundert Jahren unter verschiedenen Herrschaften gestanden. Dies bringt unterschiedliche kirchliche Einflüsse mit sich: auf der einen Seite den Protestantismus: ein Reformiertentum niederrheinischer und niederländischer Prägung sowie das Luthertum; auf der anderen Seite den spanischen und den deutschen Katholizismus. Die Menschen in Moers sind Grenzgänger; Tersteegen macht sich eine verbindende Irenik zu eigen.
Sein Vater ist vom reformierten Pietismus beeinflusst. Er stirbt, als Tersteegen sechs Jahre alt ist, und die Familie verarmt. Daher kann Tersteegen nach der Lateinschule nicht die Universität besuchen, sondern beginnt bei seinem Onkel in Mülheim an der Ruhr eine Ausbildung als Kaufmann.
Der Umzug nach Mülheim prägt sein Leben: In der ehemaligen Gemeinde Theodor Undereycks kommt Tersteegen mit dem mystisch-spiritualistischen Labadismus in Berührung, dort lernt er Hochmann von Hochenaus radikalen Pietismus kennen und befreundet sich mit dem von Hochmann bekehrten und von der Kirche abgewiesenen Theologiekandidaten Wilhelm Hoffmann.
1717 eröffnet Tersteegen sein eigenes Geschäft, doch das Kaufmannsleben sagt ihm nicht zu. Tersteegen sucht Ruhe und Kontemplation. Zwei Jahre später gibt er das Geschäft auf und arbeitet zunächst als Leinenweber, später als Seidenbandweber. Schon in dem Jahr seiner Geschäftseröffnung, 1717, übergibt Tersteegen sein Leben Christus; am Gründonnerstag 1724 verschreibt er sich an Christus. Er schreibt und unterzeichnet die Verschreibung, einen Brief an Jesus Christus, mit seinem eigenen Blut. Zuvor hat er nach langer Zeit der inneren Dunkelheit und einem Leben in völliger Askese Erfahrungen von Gottes Gegenwart und Liebe gemacht, die ihn von äußeren und inneren Zwängen befreien; er übergibt sich ganz der Führung Gottes.
Im folgenden Jahr gibt Tersteegen die gesundheitsschädliche strengste Askese auf und beginnt eine Lebensgemeinschaft mit seinem Freund Heinrich Sommer. Sein asketisch-klösterliches Leben wird vorbildlich für viele seiner Freunde. Die erste Wohngemeinschaft von Männern und Frauen, die ihr Leben in Gebet, Stille und Dienstfertigkeit verbringen wollen, wird 1727 in Otterbeck gegründet. Tersteegen ist der geistliche Führer der Gemeinschaft ("Pilgerhütte"), deren Hausregel er entwirft. Die Otterbeck trägt wesentlich zur Ausbreitung von Tersteegens Ideen bei.
Vermutlich ab 1725 hält Tersteegen bei Erweckungsversammlungen Ansprachen und Predigten. Die Predigttätigkeit wird später zu einem der wichtigsten Teile seiner Wirksamkeit. Er unternimmt zahlreiche Reisen zur persönlichen Seelsorge und zu Ansprachen in auswärtigen Versammlungen.
Zur reformierten Kirche hat er ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits spottet er über eine gedankenlos übernommene "Erbreligion", nimmt auch nicht an Gottesdiensten oder gar den Sakramenten teil, andererseits ist er deutlich vom reformierten Protestantismus geprägt und bezieht sich in seinen Schriften gern auf die Reformatoren, insbesondere wenn er sich rechtfertigen oder verteidigen muss. Gleichzeitig steht er der katholischen Mystik nahe. Seine Anhänger will er jedoch nicht vom Kirchbesuch abhalten, sondern achtet darauf, dass seine Ansprachen nicht gleichzeitig mit Gottesdiensten stattfinden. Auch will er keine eigene kirchliche Gruppierung gründen. Eine verbindliche Organisation ist seiner Meinung nach unnötig, wenn jeder Mensch durch die liebende Gegenwart Gottes in inniger Gemeinschaft mit Gott und mit seinen Brüdern und Schwestern leben kann. Dennoch entstehen Freundeskreise, vor allem am Niederrhein und im Bergischen Land.
Trotz mehrerer schwerer Krankheiten und körperlicher Gebrechen wird Tersteegen einundsiebzig Jahre alt. Er stirbt am 3. April 1769 im Kreis seiner Freunde.
Gerhard Tersteegen ist in erster Linie Seelsorger. 1728 gibt er seinen Beruf auf, um ganz als Seelsorger leben zu können. Aus seelsorgerlichen Motiven predigt er, schreibt Briefe, veröffentlicht seine Gedichte, Lieder und Sprüche, aus seelsorgerlichem Antrieb beginnt er, Arzneimittel herzustellen und an seine Freunde zu verteilen. Auch pflegt er Kranke und organisiert ein Hilfswerk, das sich u.a. um psychosomatisch Erkrankte kümmert. Die medizinische Tätigkeit nimmt einen großen Raum in seinem Leben ein, auch wenn er sie nicht hoch schätzt, da letztlich Gott über Krankheit oder Gesundheit entscheide.
Tersteegens Dichtung ist größtenteils nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern er wird von seinen Freunden überredet, die Sprüche und Gedichte zu veröffentlichen, um sie auch anderen nach Gott Suchenden zugänglich zu machen und so mehr Menschen auf den Weg zu Gott zu führen. 1729 erscheint die erste Fassung seines Gedichtbandes "Geistliches Blumengärtlein", drei Jahre später lässt er "Der Frommen Lotterie" drucken, einen weiteren Gedichtband. Die vorherrschenden Themen seiner Dichtung sind Gegenwart Gottes, Jesus-Lyrik, Heilsweg, Buße und Bekehrung sowie Brautmystik.
Neben eigenen Gedichten und Schriften veröffentlicht Tersteegen die Schriften quietistischer Mystiker, die ihm viel bedeuten und die er ins Deutsche übersetzt. Sein literarisches Lebenswerk aber sind die "Auserwählten Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen", die zwischen 1733 und 1754 erscheinen und Biographien katholischer Gläubiger vorstellen. Sie sollen die innere Führung durch Gott zeigen und so ihre Leser zu einem geistlichen Leben anregen. Nach Tersteegens Tod veröffentlichen seine Freunde Ansprachen und Briefe des reformierten Mystikers.
Tersteegens Theologie basiert auf einem relativen Dualismus, bei dem das Innerliche vom Äußerlichen getrennt ist. Allerdings sind beide so miteinander verbunden, dass das Äußerliche und die äußerlichen Hilfsmittel (Heilige Schrift, Kirche, Sakramente) zum Inneren führen können. Im Inneren aber findet der Mensch Gott. Gott ist im Herzen des Menschen gegenwärtig. Doch nicht nur dort steht der Mensch in Kontakt mit Gott, denn Gott ist allgegenwärtig. Alles, was der Gläubige tut, geschieht in ihm, Essen, Trinken, Danken, Loben, Leben. Im Inneren aber kann der Mensch Gott erkennen und zu ihm beten. Das Gebet besteht nicht im Formulieren schöner Sätze, sondern in der Wendung nach Innen.
Sünde ist die Abwendung von Gott, Hinwendung zur Welt. In Jesus Christus aber hat Gott den Menschen ganz ohne ihre Mitwirkung das Heil gegeben. Die Rechtfertigung des Sünders geschieht vor Gott und im Herzen der Menschen, dann auch vor anderen Gerechtfertigten. Des Menschen Weg zum Heil besteht aus Buße und Bekehrung. Dabei muss jeder Mensch diesen Weg individuell gehen; es gibt kein vorgegebenes Schema. Vielleicht ist Tersteegen auch deshalb die Seelsorge so wichtig, er begleitet jeden Gläubigen auf seinem persönlichen Heilsweg. Leiden kann auf diesem Heilsweg läuternd wirken, und es verbindet den Menschen mit Christus, der Karfreitag am Kreuz aus Liebe zu den Menschen gelitten hat. So wirken Gnade Gottes, Gebet, Selbstverleugnung und Leiden zur Heiligung des Menschen, der zu einer neuen Kreatur in Christus wird, indem er die Stufen der Heiligung durchschreitet. In der innigsten Gemeinschaft mit Gott, der unio mystica, wird der Mensch in Gott aufgenommen.
Tersteegens Schriften werden in frommen Kreisen, bei den "Stillen im Lande", viel gelesen und prägen die Frömmigkeit einer ganzen Generation. Gegen Anfang des 18. Jahrhunderts jedoch ist der mystische Dichter fast vergessen. Erst mit der Errichtung seines Grabdenkmals 1838 beginnt eine Tersteegen-Renaissance, sein 200. Geburtstag wird groß gefeiert. Seine Lieder werden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt in deutsche Gesangbücher aufgenommen. In den Niederlanden erfährt Tersteegen erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit; ebenso in den meisten anderen europäischen Ländern. Dagegen reicht sein Einfluss auf Amerika und Russland weiter zurück. Auswanderer importieren seine Schriften nach Amerika, in Russland findet vor allem seine Dichtung Anklang.
Fürchtet euch nicht!
Karl Barth zur Weihnacht
Die Fleischwerdung des Wortes
Fürchtet euch nicht!
Erwägungen zum Christfest
Die Fleischwerdung des Wortes
Johannes 1,14: Und das Wort ward Fleisch und nahm Herberge unter uns und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als die eines Einziggeborenen seines Vaters, der voll Gnade und Wahrheit ist.
„Unter ‚Wort‘ versteht der Evangelist, woher er den merkwürdigen Begriff (Logos) auch gehabt haben mag, nach dem ganzen Zusammenhang unzweideutig eine faktisch und konkret an die in dieser Welt lebenden Menschen ergangene, ergehende und von ihm selbst vernommene göttliche Anrede. Kein erkenntnistheoretisches und kein metaphysisches Prinzip. Nicht ‚den Sinn‘ und nicht ‚die Kraft‘ und nicht (wie Faust ‚getrost‘ schreibt) ‚die Tat‘, sondern (obwohl Faust ‚das Wort so hoch unmöglich schätzen‘ kann) wirklich das Wort, aber nicht das Wort im allgemeinen, nicht die Idee des Wortes, sondern das bestimmte, wenn auch unvergleichliche, für den Evangelisten mit derselben Gewissheit wie seine eigene Existenz geschehene und geschehende und mit der Selbstevidenz eines Axioms überzeugende Ereignis der Rede Gottes.
Gott hat geredet und redet noch. Alle Erkenntnistheorie und Metaphysik, alles, was man von Gott als Sinn und Kraft und Tat wissen und sagen mag, ist darin aufgehoben und erledigt, dass Gott geredet hat und noch redet. Gott! Was er unter solcher Gottesrede versteht, hat der Evangelist in den unserem Text vorangehenden Versen klar gemacht: Ein Wort, das dort gedacht und gesprochen ist, wo Gott selber ist, im ewigen ‚Anfang‘ aller Dinge, ein Wort, das vorbehaltlos Gottes eigene Art, Natur und Wesen hat, das ohne alle Gleichnisrede sein Wort ist. Als solches das Wort, durch das alles geworden ist – und das das ‚Leben‘, die Erlösung in sich trägt, deren ‚Licht‘ der Offenbarung den Menschen leuchtet auch in ihrer Finsternis. Nicht erkannt von der Welt, nicht aufgenommen da, wo es ursprüngliches Heimatrecht, ja Herrenrecht hat, ist es doch kräftig, doch siegreich, schafft es sich selber seine Hörer, seine Empfänger, seine Gläubigen, weil es dieses, weil es Gottes Wort ist.
... es ‚ward Fleisch‘. Es ‚war da als Fleisch‘, so muss man sofort interpretieren, um alle verkehrten Vorstellungen, die sich aus dem deutschen Begriff ‚Werden‘ hier einstellen könnten, auszuschließen. Keine Verwandlung, sondern ein unbegreifliches Zugleichsein meint Johannes. Ohne aufzuhören, jenes ewige göttliche Subjekt zu sein, ist das Wort da in der Zeit: konkret, kontingent, gegenständlich, erkennbar als ein Gegenüber des Menschen. Als ein wirkliches, also als ein menschliches Gegenüber; denn nur der Mensch kann dem Menschen wirklich gegenüberstehen.
Das ist die Wirklichkeit der Offenbarung nach dem allgemeinsten Sinn unseres Textes: die Gottesrede, von der das Evangelium Zeugnis ablegt, ist (ohne irgend einen Abstrich an ihrer Majestät und Autorität, sondern so gerade majestätisch und autoritativ!) ein Mensch. Umgekehrt ausgedrückt: der Mensch, von dem das Evangelium berichtet, ist – nicht das ‚Symbol‘, nicht die ‚Erscheinung‘ der Gottesrede an den Menschen, nicht ihre höchstmögliche Ausprägung im Relativen, sondern ist selbst die Gottesrede, die eine, einzige, die erste und letzte. Dieses ‚ist‘ ist das Weihnachtsevangelium.
Aber der Begriff ‚Fleisch‘ sagt mehr als bloß ‚Mensch‘ und Fleischwerdung mehr als Menschwerdung. ‚Fleisch‘ (Sarx) heißt im Neuen Testament nicht die menschliche Natur im allgemeinen und Idealen, sondern konkret: die Menschennatur, in der ich mich vorfinde, die Natur ‚Adams‘, die Natur, die dem Menschen unter dem Zeichen seines Sündenfalls, im Gebiet der ‚Finsternis‘, in seinem prinzipiellen Widerspruch gegen Gott und mit sich selbst eigen ist. Es heißt nicht: das Wort ward ein Edelmensch, ein Heros, eine ‚Persönlichkeit‘, sondern es heißt: ‚in unendlicher Gnade vereinigt es sich mit den Unflätigen und Gemeinen‘ (Calvin, Institutio II 13,2). ...
Nicht als von weitem strahlender König, Held oder Weiser tritt der Mensch, der die Gottesrede ist, der ‚Finsternis‘ der anderen gegenüber, sondern – ‚das Licht scheint in der Finsternis‘ – als gewöhnlicher Mensch den gewöhnlichen Menschen. Das ist die Unbegreiflichkeit, daran liegt aber auch die Wirklichkeit der Offenbarung, das unterscheidet das Weihnachtsevangelium von allen wehmütig-optimistischen Träumereien: das Wort Gottes ist da, wo wir selbst sind: nicht, wo wir vielleicht gerne wären, nicht auf einer der Höhen, die wir bei einigem Glück und gutem Willen gelegentlich wohl erklettern können, sondern da, wo wir uns, ob König oder Bettler, tatsächlich vorfinden: in der Zerrissenheit, in der wir (dem Tode entgegen!) erscheinen im ‚Fleische‘. ... Er [die Knechtsgestalt in Philipper 2,2] begegnet dem Rätsel unserer ‚Finsternis‘ auf seinem eigenen Boden. ...
Man beachte an diesem entscheidenden Satz: ‚Das Wort ward Fleisch‘ unseres Textes noch Folgendes. Einmal: Man darf das souveräne Übergewicht der ersten über die zweite Seite dieser Gleichung nicht übersehen. Das ‚Wort‘ ist Subjekt, das ‚Fleisch‘ ist Prädikat, und dabei bleibt es. Das Wort ist die Person, die hier Mensch ist. (Nicht ist es etwa eine menschliche Person, die hier das Wort ist!) Das Wort redet, das Wort handelt, das Wort offenbart, im Fleische, als Fleisch, aber das Wort, nicht das Fleisch als solches. ...
‚Das Wort ward Fleisch‘ bedeutet eine nicht aufzulösende Gleichsetzung des Ungleichen, ein Rätsel, entsprechend dem Rätsel der ‚Finsternis‘, der das Wort im Fleisch begegnet. Das fleischgewordene Wort ist ‚wahrer Gott und wahrer Mensch‘, nicht das eine oder das andere und nicht ein höheres Drittes. Die Einheit seiner Offenbarung ist keine synthetische, sondern eine dialektische Einheit: sie muss immer wieder erfragt werden, und sie muss sich als Antwort immer wieder ergeben.
Endlich: Die Fleischwerdung des Wortes ist eine Handlung Gottes an dem Menschen, dem er sich offenbart. Sie ist als Problem nicht eindeutig. Es gibt die Möglichkeit des Ärgernisses. Es gibt ohne die Handlung Gottes in ihr sogar nur die Möglichkeit des Ärgernisses, nur die Möglichkeit, Christus als der Zöllner und Sünder Geselle anzusehen und als Gotteslästerer ans Kreuz zu schlagen. Wer Ohren hat, zu hören, der hört. ‚Der Geist macht lebendig, das Fleisch ist nichts nütze‘, lesen wir bei Johannes an späterer Stelle (6,63). – Offenbarung bleibt Offenbarung, Zerreißen des Geheimnisses Gottes, so könnten wir diese Erläuterungen zusammenfassen. Oder: Ohne das Kreuz von Golgatha ist auch an der Krippe zu Bethlehem das Evangelium nicht zu hören. ...“
Aus einer „Weihnachtsbetrachtung“ in den "Münchner Neuesten Nachrichten" 1926
Fürchtet euch nicht!
„‚Fürchtet euch nicht!‘ So der Engel in der Christnacht zu den Hirten auf dem Felde nach der Weihnachtsgeschichte Ev. Lukas 2. ...
Aber wer fürchtet sich denn, sodass dieser tröstliche Befehl oder dieser befohlene Trost am Platze wäre? ... Wer denkt denn an Furcht, wenn er den Seinigen die Lichter anzündet? Und mit welcher Kraft und Überzeugung dann: ‚Fürchtet euch nicht!‘? ...
Machen die Theologen nicht weithin den Eindruck, die Furchtlosesten unter allen zu sein? Und darum vielleicht nicht eben die Kompetentesten und Mächtigsten, den anderen jenen Befehl und Trost mitzuteilen? ...
Man könnte darauf antworten wollen, dass wir Menschen doch alle, und die scheinbar Fröhlichsten und Sichersten am meisten, im verborgenen eine große Furcht in uns tragen. ... Und so fürchten wir uns: der eine vor dem, was sein Nächster, auf den er angewiesen und in dessen Hände er gegeben ist, ihm bereiten und versagen könnte, der andere vor dem Alt- und Einsamwerden, der andere vor dem Schicksal, das ihm in den Sternen vorbehalten sein möchte, der andere vor dunklen Gewalten, die er in seinem Kopf und Herzen mächtig fühlt, und also vor sich selber, der andere vor dem drückenden Geheimnis des Lebens, wie es ihn aus den Augen jedes Tieres und aus seinen eigenen hungrigen Augen im Spiegel anschaut, und wir alle vor der Pforte des Todes, die unerbittlich irgendwo auf uns wartet.
... Aber wie unsere Weihnachtsfeiern ohne Furcht unter einem gewissen Ausweichen vor aller Furcht vor sich zu gehen scheinen, so scheint die Lebensfurcht, die wir alle irgendwie als unser böses Geheimnis kennen, in einer Tiefe ihren Ort zu haben, in der sie von allen Weihnachtsfeiern unberührt bleibt. ...
Angesichts dieses Sachverhaltes dürfte dies zu bedenken sein: das Sichfürchten, dem die Weihnachtsgeschichte ihr triumphierendes ‚Fürchtet euch nicht!‘ gegenüberstellt, ist gar nicht die uns allen nur zu wohl bekannte Lebensfurcht. Nicht um der finsteren Nacht willen haben die Hirten von Bethlehem sich so sehr gefürchtet, sondern weil der Engel des Herrn zu ihnen sprach ... Oder wenn sie sich auch um der finsteren Nacht willen gefürchtet haben sollten, so wurde doch diese kleine Furcht alsbald verschlungen von der großen Furcht ... vor der Offenbarung Gottes. ...
Bloße Lebensfurcht, wie tief und stark sie auch sei, ist die Furcht des Kindes in der Nacht. Sie ist nicht sinnvoll, denn sie ist nicht Respekt, sondern Aufregung. ... wir können uns gegen sie wehren, wenigstens ein bisschen, wir können uns über sie hinweg trösten. Weihnacht gerade scheint neben Fasching und anderen programmgemäß frohen Tagen weithin als eine Aufforderung, sich über seine und die allgemeine Lebensfurcht ein bisschen hinwegzutrösten, verstanden zu sein. Die andere, die große Furcht, die Furcht vor der Verantwortung unseres kurzen Lebens, vor dem ewigen Gott ... diese Furcht ist nicht durch die Nacht erzeugt, sondern durch den Engel des Herrn in der Nacht. ‚Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.‘ Hier ist es ... der Mühe wert, sich zu fürchten. Hier geht es auf Herz und Nieren ... Hier gibt es aber auch kein Entrinnen, kein Sich-hin-wegtrösten. ...
Der Furcht Gottes, in die uns die Offenbarung treiben müsste, steht das ‚Fürchtet euch nicht!‘ sinnvoll gegenüber. ... Derselbe Engel, vor dem sie [die Hirten] sich fürchteten mit großer Furcht, gab den Befehl und den Trost ... Derselbe Engel verkündete die große Freude. Die große Freude – ‚Euch ist heute der Heiland geboren!‘ – war die Verneinung der großen Furcht. Aber nur als Verneinung der großen Furcht, nur als Aufhebung der Furcht vor Gott durch das ewige Erbarmen Gottes, nur als Vergebung für solche, die sich nicht selbst rechtfertigen können, war sie die große Freude. Die furchtlose Weihnachtsfeier muss die unweihnachtliche Furcht neben sich haben. Aus diesem Zirkel gibt es kein Entkommen. Aber warum sollte es kein Zerbrechen dieses Zirkels geben: Weihnacht in der Furcht des Herrn und darum Freiheit von der Furcht vor Gott und darein eingeschlossen Freiheit auch von der anderen Furcht, der uns nur zu bekannten Lebensfurcht? ...“
Aus einer "Weihnachtsbetrachtung" in den "Münchner Neuesten Nachrichten" 1929
Erwägungen zum Christfest
„Christliche Weihnacht ist teilweise noch bis tief in die neuere Zeit hinein ohne unser ganzes weihnachtliches Drum und Dran gefeiert worden und könnte jederzeit wieder ohne das gefeiert werden. Ich sage nicht, dass das geschehen müsste. Aber wer etwa auf die Grenze der allgemeinen Weihnachtsfreude stoßen sollte, wer etwa heimlich seufzte, dass er nicht wisse, wie er eigentlich sinnvoll, ehrlich und wirklich Weihnacht feiern solle, dem wäre in Erinnerung zu rufen: Es gibt irgendwo jenseits des Ganzen dieser allgemeinen Weihnachtsfreude und nicht bedingt durch den Apparat und dessen Erfolg oder Nicht-Erfolg auch noch eine andere Weihnacht. ...
Ich will aber auf dies hinaus: das Weihnachtsfest ist das Christfest. Ist es das, dann mag es – um dies gleich vorwegzunehmen – gut und gerne in den uns allen lieben, überkommenen Formen und Gestalten gefeiert werden, ohne dass wir uns über deren ursprünglich heidnisches Wesen graue Haare wachsen zu lassen brauchen ... Das Christfest wäre die Rechtfertigung des Weihnachtsfestes in der ganzen – weltlichen und christlichen! – Problematik, von der es umgeben ist. ...
An der Frage, ob wir an der Weihnacht das Christfest feiern, würde es sich wohl entscheiden, ob wir es ... überhaupt verstehen, Feste zu feiern. Feiern heißt ja eigentlich einfach: ruhen. Ein richtiges Fest müsste ein Triumph der Ruhe sein. Die wirkliche Ruhe, die wir nötig haben und nach der wir uns eigentlich alle sehnen, ist aber keineswegs die Ruhe von unserer äußeren Arbeit. Die Mühsal, von der wir eigentlich ruhen möchten, von der ruhen zu dürfen das wahre Fest wäre, ist die Mühsal der schon erwähnten Flucht, auf der wir alle uns ein wenig dauernd befinden: unserer Flucht vor uns selbst und vor den Mitmenschen, die ebenso dran sind wie wir selbst. ...
Es müsste ja die Ruhe des richtigen, des sinnvoll, ehrlich und wirklich zu feiernden Festes darin bestehen, dass uns die Flucht vor uns selbst und vor den anderen unmöglich und überflüssig gemacht würde. Unmöglich dadurch, dass wir genötigt würden, uns selbst (ob wir uns gefallen oder nicht) und so auch den anderen (auch ihnen, ob sie uns gefallen oder nicht) ins Gesicht zu sehen und standzuhalten. Unweigerlich müssten wir vor die Notwendigkeit gestellt sein, uns mit beiden: mit dem Gesicht im Spiegel und mit den vielen anderen Gesichtern zufrieden zu geben als mit der Gestalt unserer Existenz, neben der es keine andere gibt.
Und überflüssig müsste uns die Flucht dadurch gemacht sein, dass wir uns vor uns selbst und vor dem Nächsten (trotz alles dessen, was nach beiden Seiten mit Recht zu klagen ist) nicht mehr fürchten müssten, sondern unerschrocken und fröhlich als die, die wir sind, mit den anderen, wie sie sind, leben dürften – einfach leben, ohne uns selbst etwas einzubilden, ohne den anderen etwas vorzumachen. Die ganzen hastigen und krampfhaften Bewegungen, mit denen wir uns jetzt zu helfen versuchen, müssten unnötig geworden sein. So könnte es Ruhe geben.
Nun, diese Ruhe können und werden wir uns nicht verschaffen. ... Wir werden bis an unser Lebensende weder mit uns selbst noch mit unserem Nächsten auch nur ‚fertig werden‘, geschweige denn ins Reine kommen. ... Die Ruhe könnte nur als Gnade, als die göttliche Rechtfertigung unseres Lebens zu uns kommen. Eben dies ist das Christfest. Es besteht als Nativitas Domini [Geburt des Herrn] schlechterdings darin, dass die Gnade zu uns kommt, die – ‚Friede auf Erden unter den Menschen des Wohlgefallens‘ [Lukas 2,14] – die Ruhe ist. Was heißt Christfest feiern? Eben dies glauben: ‚Euch – dir (für dich selbst und deinen Nächsten) – ist heute der Heiland geboren!‘ [Lukas 2,11]. Glauben aber würde heißen: eben dies annehmen als geschehene und vollendete Entscheidung über uns. Und nun wird es doch wohl nicht an dem sein, dass wir uns gestehen müssen, dass wir zuguterletzt vor dem Schöpfer des Himmels und der Erde, vor Jesus Christus, und das heißt: vor der Gnade, vor der einzigen möglichen Rechfertigung des Weihnachtsfestes und unseres ganzen Lebens auf der Flucht sind?! Nun, wenn dem so wäre, so brauchte es – man darf das auch dem gefrorensten ‚Christen‘ auf den Kopf zusagen – morgen nicht mehr so zu sein.“
Aus: Karl Barth, Predigten 1935-1953, hrsg. von Hartmut Spieker und Hinrich Stoevesandt, Karl Barth-Gesamtausgabe I. Predigten, Zürich 1996, Zitate S. 406-410
Literatur:
Karl Barth, Weihnacht, München 1934
Karl Barth, Predigten 1935-1953, hrsg. von Hartmut Spieker und Hinrich Stoevesandt, Karl Barth-Gesamtausgabe I. Predigten, Zürich 1996