Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1492-1549)
Ludwig XII. versuchte mehrmals, Marguerite als Braut in Europa zu verhandeln, aber weder ihre Aussichten, noch ihr Vermögen waren ausreichend, um eine internationale Ehe einzugehen. Stattdessen heiratete sie 1509, gerade siebzehn Jahre alt, den Herzog von Alençon, von dem wenig bekannt ist. Die Forschung geht meistens davon aus, dass sie und ihr Gatte wenig Gemeinsames hatten, zumal der Herzog vor Allem ein Soldat war. Dafür hatte sie aber eine geliebte Schwiegermutter, Marguerite von Lorraine, die eine zutiefst fromme Frau war. Jahre später schrieb Marguerite über ihren Tod und ließ ihre Trauer darüber durchblicken.
Als Ludwig XII. befürchten musste, nicht selbst Söhne zeugen zu können – er hatte „nur“ zwei Töchter, Claude und Renée de France – holte er Franz d´Angoulême an seinem Hof und gab ihm seine Tochter Claude zur Ehe. 1515 verstarb er und Franz bestieg als Franz I. den Thron Frankreichs.
Für Marguerite änderte sich das Leben schlagartig. Sie kam zu ihrem Bruder an den Hof, und da die Königin Claude sehr zurückhaltend und scheu war, übernahm sie bald die repräsentativen Pflichten. Zusammen mit ihrer Mutter bildete sie mit Franz ein Trio, die sogenannte „Dreieinigkeit“. Franz konnte immer mit seiner Mutter und seiner Schwester rechnen, und sie unterstützten ihn nach Kräften.
Franz I. wurde der erste Renaissancekönig Frankreichs. Er war jung, viril und plötzlich auch reich. Er ließ bauen an der Loire, eroberte das Herzogtum Mailand, versuchte sich als Deutschrömischer Kaiser wählen zu lassen – das war eine extrem teure Angelegenheit – und verwickelte sich in Rivalitäten sowohl mit Heinrich VIII. von England als auch mit Kaiser Karl V.
Schon 1516 verhandelte er ein Konkordat mit dem Pabst in Bologna. Die französische Kirche hatte seit dem Mittelalter ihre gallikanische Freiheiten gegenüber dem Pabst verteidigt, und als Frankreich sich als Nationalstaat festigen konnte und mit Franz I. fast die Grenzen erreicht hatte, die noch heute gelten, gelang es auch Franz, eine römisch-katholische Nationalkirche zu vereinbaren. Vor allem durfte er wichtige Posten in der Kirche mit seinen Kandidaten besetzen, die dann vom Pabst anerkannt wurden. Damit war die französische Kirche ihrem König treu ergeben, nicht desto weniger war sie streng katholisch, besonders die Fakultät der Theologie der Universität von Paris (oft abgekürzt Sorbonne genannt) wachte über die reine katholische Lehre. In den Jahren 1515 bis 1534 war Franz theologisch eher liberal und pfiff die eifrigen Theologen zurück, nach 1534 machte er mit ihnen gemeinsame Sache.
In Frankreich bildeten sich Kreise von Reformkatholiken und Humanisten, die der etwas verkrusteten katholischen Theologie kritisch gegenüberstanden. Sie forderten die Bibel in der Muttersprache und in den Händen von Laien. Sie kritisierten Heiligenkult und Reliquienverehrung, und versuchten eine Erweckung der Gläubigen im Sinne vom reformatorischen „sola fide, sola scriptura“ (= durch den Glauben allein und durch die Heilige Schrift allein) herbeizuführen. Der leitende Humanist war der alte Lefèvre d´Etaples (Faber Stapulensis), der nach Jahren als Herausgeber klassischer antiker Schriften endlich bereit war, die Heilige Schrift zu übersetzen. Er wurde unterstützt von Guillaume Briçonnet, Bischof von Metz. Dieser führte Reformen in seiner Diözese durch, legte die Bibelübersetzung des Lefèvre in den Kirchen aus, verjagte die Franziskaner, die sonst fast Predigtmonopol besaßen, und ließ durch seine eigene Leute „reformatorisch“ predigen. Unter ihnen waren Gérard Roussel, der später Hofkaplan bei Marguerite wurde, Guillaume Farel, der später in Genf als Reformator zusammen mit Calvin wirkte, und Simon Robert, der die frühere Nonne Marie Dentière heiratete und auch in die Schweiz zog.
Als katholischer Bischof wollte Briçonnet nicht die katholische Kirche umstürzen oder dem Pabst die Treue kündigen, er wollte dagegen die Kirche von innen erneuern. Er gehörte dem Reformkatholizismus an, der in Frankreich oft als „évangelisme“ bezeichnet wird, mit dem deutschen Wortbrauch „evangelisch“ aber wenig zu tun hat. Die Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Lefèvre d´Etaples wollten zu den Quellen zurück, sie wollten die Bibel allen zugänglich machen, sie hatten von Paulus gelernt, dass Rechtfertigung durch den Glauben geschieht, aber er sah das alles nicht als Grund, die Einheit der Kirche auf Spiel zu setzen. Diese Männer prägten Marguerite.
An Bischof Briçonnet wandte sich Marguerite mit der Bitte um geistigen Beistand. Ein Briefwechsel folgte, der sich (nachweislich) über die Jahre 1521 bis 1524 erstreckte. Der Bischof schrieb lange Homilien, und Marguerite bat ihn ständig um mehr „seelische Nahrung“. Sie verwendete vermutlich seine schriftlichen „Predigten“ als Grundlage für Andachten mit ihren Hofdamen. Abschriften ließ sie in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis verteilen .
Briçonnet legte ihr die Bibellektüre ans Herz, mit besonderer Wertschätzung der Paulinischen Briefe. Nebenbei sei bemerkt, dass sowohl Luther als auch Calvin in jungen Jahren den Römerbrief auslegten, denn wer Erneuerung für die Kirche erhoffte, kam um Paulus nicht herum. Das Besondere bei Briçonnet war allerdings sein Hang zur Innerlichkeit, die Liebe zwischen Christus und der Seele, die Aufgabe des Selbst und das Hinschmelzen in Christus. Gute Werke, der Verdienst der Heiligen, Fasten und Pilgern kamen bei ihm dagegen nicht vor.
Für Marguerite bedeutete diese religiöse Erneuerung, dass sie anfing, geistliche Gedichte zu schreiben, ihre poetische Ader wurde freigelegt. Das erste Gedicht handelt von einer nächtlichen Vision. Ihre Nichte – die Tochter ihres Bruders – starb 1524 mit acht Jahren, und Marguerite fragt die reine Seele, was sie glauben soll. Der Antwort ist klar, sie soll Christus allein lieben und glauben. Briçonnet hätte es nicht besser ausdrucken können.
In diesen Jahren wurden Luthers Schriften in Frankreich verbreitet und wir wissen mit Sicherheit, dass Marguerite seine Schriften kannte. Die theologische Fakultät der Universität von Paris leistete Widerstand gegen die lutherische Ketzerei und das bekam Bischof Briçonnet zu spüren. In seinen Briefen an Marguerite bat er sie wiederholt um Unterstützung und besonders darum, dass sie ihren Bruder und ihre Mutter für seine Reformen gewinnen möge. Marguerite hatte zwar großen Einfluss auf ihren Bruder, aber trotzdem musste Briçonnet alle seine Reformvorhaben aufgeben. Die Gruppe um ihn flüchtete nach Straßburg, während er selbst widerrufen musste. Er starb kurze Zeit später.
1524 starb Königin Claude, und Marguerite wurde mit der Aufsicht der königlichen Kinder betraut. Aus ihrem Briefwechsel wissen wir, wie sehr diese Kinder ihr ans Herz wuchsen. Ihre Ehe blieb kinderlos – ihre Trauer darüber vernimmt man in den Briefen an Briçonnet – und jetzt konnte sie ihre mütterlichen Gefühle den Kindern ihres geliebten Bruders zu Gute kommen lassen.
1525 verlor Franz I. die Schlacht bei Pavia in Norditalien. Seit vielen Jahren, schon in der Regierungszeit Karl VIII. hatte Frankreich mit den italienischen Stadtstaaten Krieg geführt. Jetzt stießen in Italien die habsburgischen und die französischen Truppen zusammen. Die Blüte des französischen Adels wurde an einem Tag vernichtet, und Franz selbst wurde gefangengenommen. Der Herzog von Alençon flüchtete vom Schlachtfeld und starb wenige Monate später, von seiner Gattin liebevoll gepflegt.
Jetzt schlug die Stunde für Marguerite. Mit ihrer Mutter hatte sie in Lyon den Ausgang des Krieges abgewartet, und nach dem Tod ihres Gatten ließ sie ihre Mutter als Regentin Frankreichs zurück, sie selbst segelte und ritt zu ihrem Bruder, der schwer krank in Madrid im Gefängnis lag. Sie pflegte ihn wieder gesund und versuchte mit dem unerbittlichen Kaiser Karl V. zu verhandeln. Sowohl sie als auch Franz dachten, dass der ritterliche Ehrencodex seine Befreiung möglich machen würde, Karl war aber auf handfeste Vorteile aus. Am Ende versprach Franz alles, um freizukommen, fuhr nach Hause, gab seine Söhne quasi als Unterpfand dem Kaiser und musste eine Riesensumme als Lösegeld aufbringen.
Als Regentin hatte die streng katholische Louise von Savoyen die französische Kirche in ihrem Kampf gegen die „Ketzer“ unterstützt, deshalb war auch keine Hilfe für Briçonnet und seine Leute zu erwarten. Nach der Rückkehr Franzens war er noch abhängiger als zuvor von der Kirche, nur sie konnte ihm mit dem Geld, das er dem Kaiser schuldete, versorgen. Anders als die deutsche Fürsten, die sich sehr wohl handfeste Vorteile von der Reformation in ihren Ländern erhoffen konnten, hatte der französische König schon eine (katholische) Nationalkirche, die ihn kräftig unterstützte, natürlich in der Annahme, dass er keine „Ketzer“ dulden würde.
Marguerite war eine noch junge Witwe, und ihr zweiter Gatte war ein junger, strahlender Held: Henri d´Albret, König von Navarra. Er hatte sich in der Schlacht von Pavia tapfer geschlagen, war gefangen genommen worden, hatte sich aber in einer „Mantel und Degen Aktion“ buchstäblich erfolgreich abgeseilt. Er war zudem ein Frauenheld und 12 Jahre jünger als Marguerite. Sein Königreich war winzig: das Königreich Navarra war ursprünglich das, was wir heute das Baskenland nennen, ein Gebiet, das sich beidseitig über den Pyrenäen erstreckte, jedoch sein Schwerpunkt auf der Südseite der Bergkette mit Pamplona als Hauptstadt hatte. Die Albrets, als südfranzösische Großgrundbesitzer, waren durch Heirat an die Krone gekommen, nur um erleben zu müssen, dass Spanien 1512 der Gebiet um Pamplona eroberte. Damit schrumpfte das Königreich auf Basse-Navarre zusammen, der französische Teil des Baskenlandes. Da er auch Vicomte von Béarn war, eine unabhängige Grafschaft mit eigener Regierung und Generalständen, hatte er dennoch sein eigene Hausmacht. Er erwartete, sozusagen als Mitgift, dass Franz ihm helfen würde, ganz Navarra zurückzuerobern. Franz dagegen erwartete, dass er die Grenze gegen Spanien verteidigen würde und machte ihn zum Oberbefehlshaber in Guienne, eine Bezeichnung für Südwestfrankreich von den Pyrenäen bis Loire, vom Atlantik bis Auvergne.
Was Marguerite erwartete, wissen wir nicht. Ihre Ehe bedeutete für sie eine Zerreißprobe zwischen dem geliebten Bruder und dem Ehemann, und es war für sie nicht einfach, beiden gegenüber loyal zu sein.
Ihre Ehe bedeutete aber auch, dass sie endlich Mutter wurde. 1528 gebar sie ihre Tochter, Jeanne d´Albret, danach einen Sohn, der kurz nach dem Geburt starb, und dann – sie wurde ja nicht jünger – hatte sie eine Reihe von Fehlgeburten und Scheinschwangerschaften.
Als Königin mit eigenem Herrschaftsgebiet konnte sie jetzt Glaubensflüchtlingen Schutz bieten. Bei ihrem Bruder trat sie immer noch für Andersdenkende ein, sie konnte aber jetzt in Bourges luthersche Studenten und Dozenten an die Universität holen, sie brachte den alten Lefèvre d´Etaples bei ihrem Hof in Nérac unter, sie machte Gérard Roussel zum Bischof von Oloron, und sie stellte als Sekretäre bekannte humanistische Skribenten ein, unter ihnen Clément Marot, Dichter und Verfasser vom ersten gereimten französischen Psalter.
Anfänglich blieben sowohl sie wie ihr Gatte am Hofe. Sie verhandelte zusammen mit ihrer Mutter und Margaretha von Habsburg, Statthalterin der Niederlande, den sogenannten Damenfrieden von Cambrai aus. Sie empfing Botschafter, verhandelte mit dem Pabst, und hatte immer noch die Aufsicht über die königlichen Kinder. Sie reformierte Klöster überall in Frankreich, ihre Lektüre der Lutherschrift „Von den Mönchsgelübden“ hatte sie nicht dazu gebracht, die Klöster abzuschaffen, sondern eher Missstände abzubauen.
1531 veröffentlichte Marguerite ihr religiös-poetisches Werk „Ein Spiegel der sündigen Seele“. Die zweite Ausgabe 1533 wurde von der Sorbonne als ketzerisch verurteilt und verboten. Wütend verlangte Franz I. die Rücknahme der Verurteilung, und die Universität fügte sich schleunigst. Als dann, 1534, die Plakataffäre mit ihrem Angriff auf die Messe und das katholische Abendmahlverständnis die Gemüter erregte, ging sie nach Südfrankreich. Dort konnte sie unter Anderen einem Flüchtling, dem jungen Calvin, weiterhelfen. Sie hatte seit jungen Jahren freundschaftliche Beziehungen zu ihrer Cousine, Renée de France, Herzogin von Ferrara, gepflegt, und jetzt schickten die zwei gleichgesinnten Verwandten einander hilfsbedürftige Glaubensflüchtlinge zu.
In den nächsten Jahren war das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester etwas abgekühlt. Franz I. unterstützte die römisch-katholische Kirche nach Kräften, und Marguerite war vorsichtig geworden. Als der Berater des Königs ihn aber fragte, ob Gefahr bestünde, Marguerite könne zum Protestantismus übertreten, erwiderte der König: „Dafür liebt sie mich zu sehr!“, und behielt Recht damit.
Die Ruhe und Abgeschiedenheit am Hofe bedeutete für Marguerite Zeit für eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Die religiösen Gedichte waren wohl eher eine Art meditative Übung inmitten der oberflächlichen Geschäftigkeit des Hofes. Jetzt verfasste sie Schauspiele, die am Hof aufgeführt wurden. Angeregt durch die Beschäftigung mit den Schriften des Plato, die sie durch den italienischen Humanisten Pico della Mirandola und Marsilio Ficino kennengelernt hatte, dachte sie über das Wesen der Liebe nach, und ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde von diesen Überlegungen geprägt. Sie ließ Platos Schriften ins Französisch übertragen, so wie sie auch die Novellen von Boccaccio, „Dekameron“, übersetzen ließ. Diese Novellen beeinflussten ihre berühmteste Werk, die Novellen, aus denen das „Heptameron“ besteht, und die von ihr über einen längeren Zeitraum zusammengefügt wurden. Sie gab nur ein Buch in Druck, „Les marguerites de la Marguerite des princesses“, die Perlen der Perle (Marguerite) der Prinzessinnen, mitsamt dem Folgeband: „Suyte des marguerites“ (1547). Alle andere Schriften von ihr waren zu ihren Lebzeiten nur als Manuskript vorhanden, aber das Heptameron wurde ungefähr zehn Jahren nach ihrem Tod als Buch herausgegeben, und zählt seitdem zu den Klassikern des 16. Jahrhunderts, obwohl es oft missverstanden worden ist – dazu mehr später (vgl. Nielsen, Theologie als Erzählung).
Eine andere wichtige Angelegenheit in den letzten Jahren, ihr Verhältnis zu ihrer Tochter Jeanne, wird im Artikel über diese behandelt. In den letzten Jahren hatte sie eine Auseinandersetzung mit Calvin über die Freigeister, die sich bei ihrem Hof aufhielten. Ihre Bedeutung für die Reformation wird später untersucht. Klar ist allerdings, dass sie als Katholikin starb. Als ältere Frau zog sie sich immer öfters in Klöstern zurück und auch, wenn sie nie besonders rechtgläubig war, trat sie nie aus der Kirche aus. Sie starb 1549 auf ihrem Schloss Odos.
Marguerite d`Angoulême war eine hoch begabte, zutiefst fromme Frau. Sie ging unbeirrt ihre eigenen Wege, und auch, wenn sie diskret war, ließ sie sich nicht einschüchtern. Ihre Verdienste für die Verbreitung der Reformation sind offenkundig, und in Genf wusste Calvin sehr wohl, wie dankbar er ihr sein musste. Dabei war die geistige Freiheit ihr ohne Zweifel eine Herzensangelegenheit, während ihre Tochter und Enkelin mit Nachdruck Partei ergriffen. Zu Marguerites Zeiten waren diese geistige Freiheit und die Hoffnung, die katholische Kirche von innen zu erneuern und zu „reformieren“, ohne die Glaubensspaltung vollziehen zu müssen, noch möglich. Diese Umstände gaben ihr etwas Spielraum, den spätere Generationen nicht länger hatten.
Literatur
In Deutschland ist die Literatur zu Marguerite d´Angoulême übersichtlich. Zu erwähnen sind:
Margarete von Navarra: Das Heptameron, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960, mit einem ausgezeichneten Nachwort von Peter Amelung. Neudruck München 1979, 1999 (dtv 12710)
Eltz-Hoffmann, Lieselotte von: Kirchenfrauen der frühen Neuzeit, Stuttgart 1995
Kraus, Claudia: Der religiöse Lyrismus Margaretes von Navarra, München 1981
Schönberger, Axel: Die Darstellung von Lust und Liebe im Heptaméron der Königin Margarete von Navarra, Frankfurt a/M 1993
Sckommodau, Hans: Die religiösen Dichtungen Margaretes von Navarra, Köln 1955
Sckommodau, Hans: Galanterie und vollkommene Liebe im „Heptaméron“, Münchener Romanistische Arbeiten, Band 46, München 1977
Sckommodau, Hans: Die spätfeudale Novelle bei Margareta von Navarra, Sitzungsbericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt, Bd. XIV, Nr. 4, Wiesbaden 1977
Zimmermann, Margarete: Der Salon der Autorinnen: französische „dames de lettres“ vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin 2005
Stedman, Gesa & Zimmermann, Margarete: Höfe – Salons – Akademien, Hildesheim 2007
Hinzu kommt eine Übersetzung:
Febvre, Lucien: Margarete von Navarra. Eine Königin der Renaissance zwischen Macht, Liebe und Religion, Frankfurt a/M 1998 (Originaltitel: Autour de l´Heptaméron: Amour sacré, amour profane, Paris 1996)
Allgemeine Kirchengeschichte:
Strasser-Bertrand, Otto Erich: Die evangelische Kirche in Frankreich, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, Göttingen 1975
In Frankreich zählt sie zu den wichtigen Renaissancedichterinnen. Eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe ihrer Werke von Nicole Cazauran ist in Arbeit:
Marguerite de Navarre: Oeuvres Complètes, Paris 2001. Bisher erschienen:
Heptaméron, Paris 2000 und die Bände 1,3,4,8 & 9
Die klassische Biografie ist:
Jourda, Pierre: Marguerite d´Angoulême, duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Étude biographique et littéraire, Paris 1930, Genf 1978
Jourda, Pierre: Répertoire analytique et chronologique de la Correspondance de Marguerite d´Angoulême, Duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Paris 1930
Christine Martineau, Michel Veissière & Henry Heller: Guillaume Briçonnet/Marguerite de Navarre: Correspondance, 2 Bd., Paris 1975-79
Herminjard, Aimé, hrsg.: Correspondance des réformateurs dans les pays de langue française, Genf 1886-79
In Heptaméron, ed. Nicole Cazauran, ist weiterführende Literatur erwähnt. Hier verweise ich nur auf drei Kolloquien aus dem Jahr 1992:
Marguerite de Navarre, 1492-1992, Actes du Colloque international de Pau (1992), Mont-de- Marsan 1995
Etudes sur l´Heptaméron de Marguerite de Navarre, Colloque de Nice, 15-16 Fèvrier 1992, Uni.de Nice, o. J.
Marguerite de Navarre, Actes du colloque international du 14 au 16 septembre 1992, Lódź 1997
Karlsson, Britt-Marie: Sagesse divine et folie humaine, Etude sur les structures antithétiques dans l´Heptaméron de Marguerite de Navarre (1492-1549), Göteborg 2001
Montaigne: Oeuvres complètes, Paris 1962
Ausgewählte Literatur in englischer Sprache:
- Patricia F. Cholakian & Rouben C. Cholakian: Marguerite de Navarre, Mother of the Renaissance, New York 2006
- Cholakian, Patricia F.: Rape and Writing in the Heptameron, Carbondale 1991
- Cottrell, Robert D.: The Grammar of Silence, A Reading of Marguerite de Navarre´s Poetry, Washington D.C. 1985
- Davis, Betty J.: The Storytellers in Marguerite de Navarre´s Heptaméron, Lexington 1978
- Davis, Natalie Zemon: Society and Culture in Early Modern France: eight Essays, Stanford 1975
- Farge, James K.: Orthodoxy and Reform in Early Reformation France, The Faculty of Theology of Paris, 1500-1543, Leiden 1985
- Ferguson, Gary: Mirroring belief: Marguerite de Navarre´s Devotional Poetry, Edinburgh 1992
- Gelernt, Jules: World of Many Loves, The Heptameron of Marguerite de Navarre, Chapel Hill 1966
- Greengrass, Mark: The French Reformation, London 1987
- Salmon, J.H.M.: Society in Crisis, France in the Sixteenth Century, London 1975
- Tetel, Marcel: Marguerite de Navarre´s “Heptaméron”: Themes, Language and Structure, Durham N.C. 1973
Landverheißung und Zionismus in der Theologie Friedrich-Wilhelm Marquardts - eine Problemanzeige
Von Tobias Kriener
Friedrich-Wilhelm Marquardt ist mein wichtigster theologischer Lehrer. Das hat im Wesentlichen zwei Gründe.
Der eine: Zu Beginn meines Theologiestudiums beschäftigte ich mich - veranlaßt durch den rabiaten Atheismus meiner Schulfreunde - sehr intensiv mit der Religionskritik von Feuerbach und Marx und mit Barths Aufnahme und Durcharbeitung dieser Kritik. Trotz aller Bemühungen aber gelangte ich nicht zu solcher Gewißheit, wie ich sie vor allem von Kommilitoninnen und Kommilitonen pietistischer Herkunft kannte. Das war für mich eine grundlegende Anfechtung: Kann ich Theologe sein und Pfarrer werden wollen, wenn ich mir in meinem Glauben nicht ganz sicher bin? Beim Nürnberger Kirchentag 1979 hörte ich dann Marquardts Vortrag »Christsein nach Auschwitz«. Er endete mit einem doppelten »Vielleicht«: »Robert Raphael Geis sagte auf dem Kirchentag in Hannover 1967: ‚Das Wort des Glaubens in unserer Zeit kann und will nicht mehr pompös-deklamatorisch sein, es ist das ‚vielleicht’ eines zaghaften Hoffens. Doch auch das Wort von Gottes erbarmender Liebe heißt: vielleicht.’ Vielleicht? ... Vielleicht.« (1) Dieses »Vielleicht« war für mich ein echtes Evangelium, denn es machte mich frei von dem Zwang, Gewißheit gewinnen zu müssen. Von da ab konnte ich mit Zweifeln als Bestandteil meiner Theologenexistenz leben.
Das Zweite: Zeitweise vertrat ich damals einen sturen Barth-Dogmatismus. Im Rahmen eines studentischen Seminars in Jerusalem berichtete uns Marquardt von Barths Ausspruch ihm gegenüber: »Sei ein Mann und folge mir - nicht!« Und tatsächlich. An Marquardt ist besonders faszinierend, wie er - von Barth herkommend - doch entschieden und frei einen eigenen Denkweg weitergeht. Sein Beispiel half mir, mich von meinem Barth-Dogmatismus allmählich freizuschwimmen.
I.
Das Nachdenken über die theologische Bedeutung der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 hat Marquardt beinahe von Anfang seiner theologischen Arbeit an beschäftigt. Der - vorläufige - Endpunkt dieses Nachdenkens liegt in seiner Dogmatik vor. (2)
Die Gründung des Staates Israel wirkt als hermeneutischer Katalysator: »... daß wir eine These vom gekündigten Bund Gottes mit Israel in unserer Generation nicht mehr wiederholen können, ... ist Folge brutaler historischer Umstände - der Schoah und der Rettung eines jüdischen Volksteils aus ihr und vor ihr - und der damit in einem engen Zusammenhang stehenden neuen Selbstidentifizierung der Geretteten und Verschonten mit dem biblischen Volk Israel. Zu ihr gehört auch die neue Identifizierung zuerst mit der adamat Jißrael, seit Beginn der modernen zionistischen Siedlung im Lande, - dann mit Erez Jißrael und der Staatengründung dortzulande. ... Für uns als Christen ist es ... diese unerhörte ‚Geschichtswahrheit’, die uns nötigt, die Bibel mit ihren entsprechenden Partien in Zusammenhängen dieser neuen Realität zu lesen, vor allem sie auch neu historisch zu identifizieren mit diesem Volk, seinem Selbstverständnis, zu dem integral jene ‚ewige’ Beziehung auf das Land gehört ...« (3) Dem entsprechen die biblischen Texte von der Landverheißung Gottes an Israel und von der Landnahme Israels.
Entscheidend ist eine theologische Erkenntnis im engsten Sinne: Die Landverheißung ist nicht irgendein zeitlich weit zurückliegendes und darum überholtes Geschehen in der Geschichte Israels, sondern sie ist ein Kennzeichen Gottes: »So wie die Bibel es sieht, hat Gott sich selbst auf Gedeih und Verderb an das Volk Israel ... und damit zugleich auch an sein Verhältnis zum Lande engagiert.« (4) Zwei Phänomene vor allem sprechen dafür: die Rede davon, daß Gott das Land zuschwört und der Zusammenhang von Erstem Gebot und Land. (5) Ersteres zeigt, daß es in der Landverheißung um ein Element des Bundes geht. Weil Gott in der Verheißung von Nachkommen zugesagt hat, daß Israel durch die Zeiten leben und schließlich im Land, wo Milch und Honig fließen, ruhig wohnen wird, hängt seine Verläßlichkeit und also sein Gottsein daran, daß sich das Zugesagte ereignet: »Ein gesegnetes Israel im Lande wäre also das höchste Allgemeine für die Erkennbarkeit dieses Gottes.« (6) Den Zusammenhang zwischen Erstem Gebot und Land beschreibt Marquardt folgendermaßen: »Wenigstens ein kleines Stückchen Erde ... wählt er, um ein Beispiel zu geben dafür, was es für alle heißen könnte: Gott regiert auf Erden.« (7) In einem Land wenigstens soll schon jetzt kein Raum mehr sein für Götzendienst, sondern Gott allein gedient werden.
Daß der biblische Gott sich ausgerechnet an seine Verheißung eines bestimmten Landes für ein bestimmtes Volk bindet, macht seine »Absonderlichkeit, Unangepaßtheit, ‚Andersheit’« aus. (8) Durch die Landverheißung macht Gott sich gegen-ständlich, weil sie nämlich »in der Welt nur Widerstand, Ablehnung, Gegenbewegung« erzeugt. (9) Diese Gegen-Ständlichkeit ist wie nichts sonst Antidot gegenüber dem Projektionsverdacht der Religionskritik: Ein so massiv gegen alle Maßstäbe der »aufgeklärten Vernunft« (10) handelnder Gott kann nicht Produkt von Einbildung sein.
Marquardt ist sich dessen bewußt, daß gerade die Landverheißung für die »aufgeklärte Vernunft« anstößig ist: »(Gott) verheißt dieser bodenlosen Menschengruppe ein Stück ihm ursprünglich .fremden Landes.« (11) »Das verheißene Land war schon damals nicht ‚leer’ - sowenig wie zur Zeit der neuzeitlichen zionistischen Siedlungen dort, so wenig wie bei den heutigen jüdischen Landnahmebewegungen auf der Westbank am Ende des 20. christlichen Jahrhunderts.« (12) Ja-Sagen zur Landverheißung bedeutet aber, daß man den sich aus ihr ergebenden Konflikt als unvermeidlich akzeptiert: »Andere Völker lebten und herrschten dort, und so bedeutete die Landverheißung - wie heute schon damals - einen unvermeidlichen Zusammenstoß zwischen den Stämmen Israels und den Bewohnern des Landes.« (13) Die »Wurzel« des »unlösbar scheinende(n) Konflikts um das Land heute« liegen »nicht zuletzt in einer Auseinandersetzung am Gottes Landverheißung an Israel«. (14)
Es ist unausweichlich, daß dieser Konflikt auch kriegerisch ausgetragen wird. Auch dem stellt sich Marquardt mit aller Konsequenz: »Vor alle sozialen Utopien hat Gott die Infragestellung jeder Möglichkeit von Gerechtigkeit gesetzt: das Elend, daß Landverheißung sich anders nicht als in Landnahme verwirklichen läßt. Ein fundamentales Unrechttun ist die Basis, an der soziales Recht und höhere Gerechtigkeit ... erst gelernt, erarbeitet werden müssen.« (15) In dieser »nackten Relität« hat sich Tora, das jüdische Recht zu bewähren. (16) Marquardt geht daher auch ausführlich auf die Kriegsgesetze in Dtn 20, das Feindesrecht in Ex 23,4f. und das Fremdenrecht in Num 15,15f.; Lev 24,22 und Lev 19,33f. ein, um zu zeigen, daß die göttliche Rechtssetzung in der Tora am »allerschwersten Fallbeispiel« des Krieges begrenzend wirkt. (17).
Auch auf das biblische Phänomen des Heiligen Krieges kommt Marquardt zu sprechen. Sein Fazit: »Darin (in den Texten, die von Heiligem Krieg berichten, d. Verf.) muß wirkliche Erfahrung aufgehoben sein: Es gab Situationen eines unerklärlichen Ausweichens, sogar Zurückweichens von Gegnern vor einem Nimbus, der Israel voranging.« (18) Diesen Nimbus sieht Marquardt auch in der modernen Geschichte des Zionismus wirken: »Das Phänomen gehört in die umstrittene ... Geschichtserinnerung der Vorgänge von 1947 auf 1948 hinein: ... die Israelis bringen immer wieder Beweise für von ihnen gar nicht erzwungene Fluchtbewegungen von Palästinensern aus dem Land hinaus. ... freiwillige Massenflucht ohne Ausweisung. Ein Phänomen des heiligen Krieges war es wohl wirklich«. (19)
Konsequenz der Landverheißung in der geschichtlichen Realität ist aber vor allem die »bittere Enterbung« der bisherigen Bewohner des Landes. (20) Marquardt legt Wert darauf zu betonen, daß es sich nicht um Vertreibung handelt, sondern um einen »Besitzwechsel«, wodurch die Vorbesitzer nicht »rechtlos« werden, sondern ihnen das Recht »derer, die nicht mehr ‚Erben’ sind im Land, sondern Abhängige«, eingeräumt wird. (21)
Von diesen Aussagen ausgehend versucht Marquardt nun, auch den unvermeidlichen »Opfern« gerecht zu werden: »Alle Weltgeschichte, auch alle Befreiungsgeschichte, ist Opfergeschichte ... Wenn Gottesgeschichte im Medium von Weltgeschichte geschieht, wird auch sie belastet mit dem Elend, das auch sie dann erzeugt.« (22) Marquardt weicht nicht aus, sondern unternimmt den Versuch - sich in einen Palästinenser versetzend und all dessen bittere Gefühle nachvollziehend - dennoch eine Glaubenshaltung zu imaginieren, die palästinensisches Weichen vor Israel bejahen kann. Johannes der Täufer und sein Ausspruch: »Jener muß wachsen, ich aber abnehmen« (Joh 3,30) ist ihm Vorbild für eine solche Glaubenshaltung. (23) Für den mißglücktesten Gedanken in diesem ganzen Zusammenhang schließlich erachte ich folgenden: Marquardt entnimmt der Lutherschen Schrift gegen die aufständischen Bauern den berüchtigten Satz »Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz ist des Christen Recht« und regt, auf ihm aufbauend, für Palästinenser eine »negative Theologie. Theologie der Kehrseite Gottes. Theologie des Ausweichens. ... Befreiungstheologie der Enterbten« an. (24)
An keiner Stelle gibt Marquardt vor, eine ‚ausgewogene Position’ beziehen zu wollen. Seine Haltung umreißt er mit dem Begriff »Mitläufertum«: Die Christen sind »d(ie)jenigen Nichtjuden, die sich ... zu (Israels) Mitläufern gemacht haben«. (25)
lnteresseleitend ist für Marquardt auch nicht die Überlegung, wie ein »gerechter und dauerhafter Friede im Nahen Osten« auszusehen habe. Vielmehr hegt er gegen die Vertragswerke der internationalen Politik eine abgrundtiefe Skepsis: Die Völker »bedrohen sich ..., unterwerfen einander und bilden Imperien. Stützen sich freilich auch gegenseitig durch Warentausch, Handel, Blockbildungen und Unionen, politische Verträge: solange sie halten. (Hervorhbg. durch d. Verf.) Sie führen lange Kriege, genießen kurzen Frieden und sind wie Subjekte so auch das große Unglück der Weltgeschichte«. (26) Und im Speziellen gilt das auch für alle Friedenspolitik, denn schon die Propheten Israels verkündigten die Urteile Gottes »nicht selten gegen jeden Augenschein und durchaus contre coeur des Alltagsbewußtseins, das immer wünscht, sich beruhigen und täuschen zu können über den Ernst der Lage: ‚Friede! Friede! doch wo ist Friede?’« (27) Der Erfolg von Friedenspolitik, der Abschluß von Vertragswerken ist für ihn also nicht Maßstab zur Beurteilung des Verhaltens der »Völker«, weil solche Vereinbarungen in der weiteren historischen Perspektive sehr relative und äußerst brüchige Arrangements sind, auf die sich eine grundlegende Beurteilung nicht stützen läßt. Bleibender Maßstab für das Verhalten der Völker - für die Beurteilung internationaler Politik und darin auch der Nahostpolitiken - ist allein ihr Verhalten gegenüber Israel: »Israel das Maß, an dem Gott die Völker mißt.« (28)
II.
Marquardts Entwurf besticht durch seine tiefe Fundierung im biblischen Text und durch die Kohärenz und Stringenz des Argumentationsgebäudes, das er auf diesem Fundament errichtet. Der Gedanke der »Gegenständlichkeit« Gottes, die in der Partikularität der Erwählung Israels und seiner Gebundenheit an dieses konkrete Stück Land anschaulich wird, ist mir theologisch besonders wertvoll, weil er ein religionskritisches Christsein ermöglicht.
Warum aber kann ich Marquardt dennoch nicht folgen? Bin ich inkonsequent, weil zu sehr in der »allgemeinen Menschenvernunft« (29) befangen?
Ich kann Marquardt vor allem der Erfahrungen wegen nicht folgen, die ich in drei Jahre Leben in Israel gemacht habe. In mein erstes Israel-Jahr fiel der Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar el Sadat, der enorme Auswirkungen hatte, weit über den Abschluß eines Friedensvertrags mit Israel hinaus: Erstmals kam ein arabischer Staatschef, einer von denen, die als neuer Hitler bezeichnet worden waren, nach Israel, redete vor der Knesset, besuchte Jad Vashem. Dieser Besuch hat einer ganzen Ontologie der ewigen Feindschaft zwischen Juden und Arabern den Boden entzogen.
1981 erlebte ich den Wahlkampf für die Knesset mit, der von einer demagogisch geführten Haßkampagne des damaligen Ministerpräsidenten Begin gegen Schimon Peres geprägt war. Es herrschte Lynchstimmung überall, wo der sozialdemokratische Kandidat auftauchte. Der Mord an Jizchak Rabin sechszehn Jahre später ist schon damals von nachdenklichen Kommentatoren vorausgesehen worden.
Was heißt »Mitläufertum« angesichts solcher innerisraelischen Auseinandersetzungen? Mit wem mitlaufen? Der Begriff »Mitläufer« hört sich m. E. fatal nach Ausschalten des eigenen Denkens an, als solle der »Mitläufer« jede Wendung, die von oben vorgegeben wird, mitmachen und das eigene kritische Denken und Prüfen ausschalten. Dazu bin ich nicht bereit. Ich stehe dazu, daß ich auch in Bezug auf Israel zwischen einer besseren und einer schlechteren Politik unterscheide.
In das dritte Jahr meines Aufenthalts in Israel fiel der Beginn der Intifada, die der israelischen Öffentlichkeit mit einem Schlag bewußt machte, was es bedeutet, ein anderes Volk zu beherrschen. Die Intifada stellte die Israelis vor die entscheidende Frage: Wollen wir die Besetzung - mit allen Konsequenzen, die das für uns als demokratische Gesellschaft wie für uns als ethisch handelnde Individuen hat - oder wollen wir sie nicht?
Meine gleichaltrigen israelischen Freunde - darunter nicht- oder antireligiöse ebenso wie orthodox-religiöse - beantworteten diese Frage mit »Nein«. Sie wollten keineswegs, daß auch noch ihre Söhne dazu gezwungen sein würden, in der Konfrontation mit Palästinensern etwa gewalttätig zu werden, was sie selbst verabscheuten. Sie traten und treten deshalb für die Rückgabe von »Judäa und Samaria« ein und müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, Verräter und eigentlich keine Juden zu sein.
Die Marquardtsche Auslegung der Landverheißung aber gelangt zu Positionen, wie sie solche politischen Kräfte vertreten, die meine israelischen Freunde als »Verräter« bezeichnen: Positionen des Gusch Emunim und seiner parlamentarischen Vertreter in Likud, National-Religiöser Partei und Moledet. (30) Wenn ihre Einstellung tatsächlich die Konsequenz der biblischen Landverheißung ist, wenn sie die authentischen politischen Interpreten des Willens Gottes sind - dann müßte ich vom Glauben abfallen. In der Konsequenz solcher Argumentation müßte ich die arabische Propaganda, die dem Staat Israel expansionistische Gelüste bis an den Euphrat unterstellt, und die mir bislang als Ausdruck von Paranoia galt. für glaubwürdig halten, und könnte verstehen, daß die Araber sich mit allen Mitteln, derer sie habhaft werden können, dieser Bedrohung ihrer Existenz entgegenstemmen.
III.
Aber so ist es - Gottlob - nicht!
Marquardt erklärt es für ein Kennzeichen der Bundesbeziehung zwischen Gott und Israel, »daß er mit seinem Volk im anstößigsten Sinne real-politisch kommuniziert« (31) Er begeht aber nun m. E. den grundlegenden Fehler, daß er die Bibel fundamentalistisch liest, das heißt: ohne realpolitisch zu reflektieren, ob die Situation der ersten Landnahme Israels der Situation gleicht, in der die zionistische Bewegung ihr Projekt der Ansiedlung in Palästina durchführte, oder wie sie sich von letzterer unterscheidet.
Vollzog sich die erste Landnahme in einem rechtsfreien, anarchischen, internationalen Rahmen, in dem nur das Recht des Stärkeren galt, so spielte sich die moderne »Landnahme« im völkerrechtlichen Rahmen des Völkerbundmandats über Palästina ab, das der dominierenden Weltmacht Großbritannien den Auftrag erteilte, für die Einrichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk zu sorgen. (Die Balfour-Deklaration war Bestandteil des Mandatsauftrags.) Auf diese Weise erübrigte sich Krieg als Mittel der Landnahme: Sie vollzog sich in der Moderne teils durch Bodenkauf, weitaus wirksamer war jedoch der Beschluß der UNO von 1947, mehr als die Hälfte des Mandatsgebiets für einen jüdischen Staat vorzusehen. Die folgenden Kriege wurden - zumindest aus israelischer Sicht - zur Sicherung des völkerrechtlich zugesagten Gebiets geführt und waren nicht etwa Mittel der Landnahme.
Abgesehen von der Frage, wie haltbar Friedensverträge sind, ermöglicht der Entwicklungsstand der internationalen Institutionen eine Konfliktaustragung mit Mitteln der Diplomatie. So unvermeidbar der Konflikt um das historische Palästina war und so »unlösbar« er auch ist, so gibt es doch internationale Verfahrensregeln, die die Mittel zur Austragung dieses Konflikts eingrenzen. Ich denke dabei an den Teilungsbeschluß der UNO und eine Reihe von UNO-Resolutionen zur Flüchtlingsfrage, dem Status Jerusalems, dem Status okkupierter Territorien bis hin zur Genfer Konvention, die versucht, die schlimmen Auswirkungen von tatsächlich geführten Kriegen zu begrenzen.
Dem Gott Israels, der seinem Volk ein Stück Land zuschwört, stehen also inzwischen andere Instrumente zur Umsetzung seines Bundesratschlusses zu Gebote, die er in der zionistischen Bewegung bereits genutzt hat. Jene Mittel, die zur ersten Landnahme notwendig waren, waren dagegen in der modernen Geschichte der zionistischen Landnahme überflüssig: Der Terror der Untergrundgruppen der Revisionisten bis hin zum Massaker von Deir Jassin 1947, das den »Schrecken« verbreitete, der dann zu der »freiwilligen Massenflucht ohne Ausweisung« führte, aber auch die Vertreibungsaktionen der israelischen Armee, hatten nur das eine Ziel, ein demographisch möglichst homogenes Territorium herzustellen. Sie als Phänomene des »Heiligen Krieges« zu werten, geht am biblischen Sachverhalt vorbei, der, wie Marquardt ja zeigt, von »Entwurzelung« spricht und nicht von Vertreibung. Das Entscheidende der Landverheißung, daß nämlich das Volk des Bundes ein Stück Land erhält, um die Tora des Landes tun zu können (33) und Gott »als Nation durch Institutionen dienen (zu) können« (34), ist durch den Teilungsbeschluß von 1947 erfüllt. Die Vertreibung der Palästinenser hat hierzu nicht nur nichts beigetragen, sondern im Gegenteil Haß und Revanchegelüste genährt, die bis heute einen Interessenausgleich so schwer machen.
Wenn Marquardt die Siedlungsaktivitäten nach 1967 dennoch als »neue messianische Verbindlichkeiten auch für politisches Handeln« (35) einordnet, ist damit ein zweites Problem gegeben: das der theologischen Verortung der Landnahmeverheißung in der Eschatologie. Zwar ist der Paragraph, in dem Marquardt seine Ausführungen über Zionismus und Staat Israel macht, überschrieben: »de antecedentibus«, also: ‚Von den vorletzten Dingen’. Sie gelten ihm aber doch als Phänomene, die auf das Ende zulaufen und als »Anfang der Erlösung«. Auch damit findet Marquardt sich bei der Auffassung nationalreligiöser Kreise in Israel wieder. Dort ist er aber unter die falschen Propheten geraten. Das Ende der Welt ist noch nicht gekommen; es genügt, daß der Staat Israel als Zufluchtsstätte für Juden in aller Welt da ist. Daß er sich derzeit in einem Prozeß der Rückgabe von Teilen des zugeschworenen Landes befindet, ist so gesehen geradezu heilvoll, weil er messianische Hoffnungen stutzt und eine uneschatologische Interpretation Israels stützt.
Marquardt ist sich der Anfechtbarkeit seines Versuchs gelegentlich sehr wohl bewußt. Dies zeigt m. E. eine Bemerkung am Schluß seiner Dogmatik, in der »Utopie«, die noch einmal eine ganz andere Perspektive auf Israel eröffnet. Zu den Veränderungsprozessen, die die israelische Gesellschaft derzeit durchmacht, schreibt er: »Vielleicht, daß Israel beginnt, sich - nicht zuletzt um seines Friedens inmitten der Völker willen - zu historisieren, sein Ausnahmehaftes, damit aber auch sein qualitativ Besonderes einzuschränken. Das wertet die nie beendete Existenz der Gola, der jüdischen Diaspora unter den anderen Völkern der Welt, neu auf... Noch ist es nicht so weit, aber wir können nicht ausschließen, daß wir irgendwann einmal die Gesellschaft Israels ansehen müssen und ansehen werden wie nur irgendeine Gesellschaft sonst.« (35)
Mit seiner Bemerkung stößt Marquardt die Tür auf zur Entwicklung einer konsequent uneschatologischen Sicht Israels inmitten der Juden in aller Welt und inmitten der Völker der Welt. In dieser uneschatologischen Perspektive hätte auch ein Heimatrecht der Palästinenser in Palästina Platz - als Erinnerung daran, daß die Erlösung noch nicht da ist; und - wenn sich ein friedlicher Interessenausgleich zwischen Israelis und Palästinensern ergeben sollte - als Angeld auf die prophetische Utopie, derzufolge sogar Wölfe bei Lämmern weiden werden.
Wie es sich dereinst mit dem »Reich für Israel« verhalten wird, das bleibt bis zur letzten Offenbarung als »Geheimnis« (Rö 11,25) unserem Zugriff entzogen. Allerdings gehört nach meinem Dafürhalten zu christlicher Eschatologie auch die Hoffnung auf Abbruch der (Grenz-)Zäune, auf Beendigung der Feindschaft (Eph 2,14). Christliches Handeln darf sich schon jetzt entsprechend dieser Hoffnung stark machen für Versuche, unter den Bedingungen der Realpolitik zur Eindämmung von Feindschaft und damit zum Durchlässigwerden von Grenzen beizutragen.
2. Vgl.: Friedrich-Wilhelm Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften. Eine Eschatologie, Bd. 2, Gütersloh 1994. S. 187 - 285 und S. 382 - 386.
3. A. a. O., S. 266 f., vgl. auch a. a. O., S. 312.
4. A. a. O., S. 243.
5. Vgl. a. a. O., S. 243-259.
6. A. a. 0., S. 247.
7. A. a. 0., S. 253.
8. A. a. O., S. 243.
9. Ebd.
10. A. a. O., S. 268. 11. A. a. O., S. 187.
12. A. a. O S. 199.
13. Ebd.
14. A. a. O.. S. 198.
15. A. a. O., S. 228.
16. Ebd.
17. Ebd.
18. A. a. O., S. 262 f.
19. A. a. 0., S. 263.
20. A. a. 0., S. 202.
21. A. a. O.. S. 207.
22. A. a. O., S. 275.
23. A. a. O., S. 285.
24. Ebd.
19. A. a. 0., S. 263.
20. A. a. 0., S. 202.
21. A. a. O.. S. 207.
22. A. a. O., S. 275.
23. A. a. O., S. 285.
24. Ebd.
25. A. a. 0., S. 135; vgl. auch S. 161, 163.
25. A. a. 0., S. 135; vgl. auch S. 161, 163.
26. Fr.-W. Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften`? Eine Eschatologie, Bd. 3, Gütersloh 1996, S. 257.
27. A. a. O., S. 263. 28. A. a. O., S. 269.
29. Eschatologie, Bd. 2, S. 270.
30. Rechtsradikale Partei, die sich für den »Transfer« aller Palästinenser einsetzt - natürlich nicht unter Anwendung von Zwang, sondern als freiwilliges »Weichen«, unterstützt allenfalls durch Finanzhilfen. Ich weiß natürlich, wie sehr ich Marquardt Unrecht tue, wenn ich ihn in dieser Ecke sehe, denn er hat selber öffentlich seine Sympathie für die Arbeitspartei erklärt: Vgl. Zwischenruf »Wenn ich Israeli wäre ...«, in: Junge Kirche ll/88, S. 597.
31. Eschatologie, Bd. 2, S. 187.
32. Eschatologie, Bd. 2, S. 210-228.
33. A. a. O., S. 227.
34. A. a. O., S. 384.
35. Fr.-W. Marquardt, Eia, wärn wir da - eine theologische Utopie, Gütersloh 1997,S.576.
Quelle: Tobias Kriener, Landverheißung und Zionismus in der Theologie Friedrich-Wilhelm Marquardts - eine Problemanzeige, in: Wendung nach Jerusalem. Friedrich-Wilhelm Marquardts Theologie im Gespräch, hrsg. von Hanna Lehming, Joachim Liß-Walther, Matthias Loerbroks und Rien van der Vegt, Gütersloh 1999, 217-226.
©Dr. Tobias Kriener
David Novak, jüdischer Philosoph in Toronto, Kanada, reflektiert die biblischen Landverheißungen im Sinne traditioneller rabbinischer Auslegung und moderner Philosophie. Sein Fazit: Jüdische Bundestheologie begründet einen modernen Rechtsstaat, in dem Gemeinschaften unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Religion zusammen im Land Israel leben.
Thesen auf dem Weg zu einer Hermeneutik, "die weder unsere Heiligen Schriften, noch die völkerrechtliche Grundlage der Legitimität des Staates Israel desavouiert".
Das Verhältnis Israels zu seinem Land ist kaum bedacht in christlicher Dogmatik. Anders bei Friedrich-Wilhelm Marquardt, dem 2002 in Berlin verstorbenen Professor für Evangelische Theologie. In seiner Eschatologie lädt Marquardt ein, das jüdische Volk und seinen Staat als "neue Tatsache" wahrzunehmen. Er hält dabei fest: Bis zum jüngsten Gericht „können wir die Geschichte von den Juden und ihrem Land nur als Geburtswehen eines kommenden Neuen begreifen“.