'Steh auf und iss'

Predigt in der Französischen Kirche zu Berlin am 20.3.22 (Okuli) zu 1.Könige 19 (in Auswahl)


© Pixabay

Von Bernd Krebs

Liebe Schwestern und Brüder,

Sie halten ein Bild in der Hand. Die kleine Figurengruppe stammt von dem – neben Tilman Riemenschneider – wohl bekanntesten Bildhauer, Maler und Kupferstecher der Spätgotik: von Veit Stoß. Er wurde 1445 in Nürnberg geboren und starb dort 1533. Er wurde 88 Jahre alt! Stoß hat er in seiner Geburtsstadt Nürnberg und in Bamberg gewirkt und während zweier Jahrzehnte auch in Krakau von 1477-96.

Die Figurengruppe zeigt den schlafenden Elia, zu dem der Engel tritt, um ihn anzustoßen und die Worte zu sprechen: „Steh auf und iß“. Die Figurengruppe war ursprünglich für den Marienaltar der Salvator-Kirche, der Kirche des Karmeliter- Ordens, in Nürnberg bestimmt. Der Übertritt Nürnbergs zur Reformation und das entschiedene Eintreten der Familie Stoß auf Seiten der Altgläubigen durchkreuzten jedoch alle Pläne. Der Marienaltar blieb unvollendet. Seine erhalten gebliebenen Teile stehen heute im Bamberger Dom. Hören wir, was es mit Elia und dem Engel auf sich hat.

[Lesung 1.Könige 19 in Auswahl]

„Steh auf und iss“ ... Gottes Antwort auf Elias Todeswunsch. Soll heißen: „Ich brauche Dich noch – ich habe noch etwas vor mit dir.“ „Steh auf und iss“ - gleich zweimal muss der Engel Elia anrühren und mit diesen Worten in`s Leben zurückrufen – denn Elia, der Kämpfer für die Sache des HERRN, hat aufgegeben.

Ist ihm auf einmal bewusst geworden, dass sein Kampf gegen die Abirrung des Volkes aussichtslos bleiben könnte, weil da keiner mehr war, der mit ihm hätte streiten können, kein einziger Verbündeter? Hatte Gott sein Volk aufgegeben? Hatte Gott auch ihn, Elia aufgegeben? Elia erkannte plötzlich, wie nahe er doch seinen Vorfahren stand. „Ich bin nicht besser als meine Väter“.

Aus Ägypten ausgezogen, hatten sie erlebt, wie der HERR seine Macht am Pharao erwies. Doch kaum, dass sie die Knechtschaft hinter sich lassen konnten, überkam sie tiefster Zweifel: „Hast du uns etwa deshalb weggeführt, damit wir in der Wüste sterben, weil es in Ägypten keine Gräber gab?“ (Ex 14,11). Die Gewissheit, der HERR würde weiterhin zu ihnen halten, sie durch alle Gefährdungen hindurch bringen, war zerbrochen.

Und Elia? Er war in Todesangst vor Isebel geflohen. Er hatte es lieber nicht darauf ankommen lassen, erleben zu müssen, ob Gott ihm noch einmal geholfen hätte. Ohne solche „Gottgewissheit“ aber bleibt nichts mehr – nur tiefe Erschöpfung und Todesmüdigkeit. Elija bittet Gott um den Tod. Eine Antwort oder Reaktion scheint Elia gar nicht mehr zu erwarten, er legt sich hin und schläft ein.

Die Komposition des 1.Königsbuches setzt unübersehbar auf die Parallelität der Ereignisse. Mose – Elija – Elija – Mose. Wieder ist - wie zu Beginn der Geschichte Israels – die Wüste der Ort der Prüfung, der Ort, an dem die „Gottgewissheit“ ins Wanken gerät und zu zerbrechen droht. Und wieder kommt es zur Begegnung am Berg „Horeb“ und zu einer nachhaltigen Veränderung.

Wie der HERR Israel nicht preisgegeben hat, so gibt er auch Elija nicht preis. Wasserkrug und Brot werden zu Chiffren für das Leben wie einst das Manna. Die erste Speisung ruft Elia zurück in das Leben zurück. Die zweite Speisung bringt ihn in Bewegung – auf den Weg zur Stätte „der Väter“, zum Berg der Gottesbegegnung.

Und GOTT erscheint Elia auf dem „Horeb“. Wie einstmals Mose? Mitnichten. Der HERR erscheint Elia in einer Weise, die allen landläufigen Erwartungen entgegen steht. Nicht nur, dass Gott in keiner der Naturerscheinungen zu finden ist. „Und der Herr war nicht im Wind ... nicht im Erdbeben... nicht im Feuer“, heißt es apodiktisch. Am Ende bleibt – buchstäblich – in der Schwebe, ob der HERR denn im „stillen, sanften Sausen“ ist, wie Luther übersetzt, das den Naturerscheinungen folgt.

Das gewohnte Bild machtvoller Gottesoffenbarung wird also nicht nur durchkreuzt – dreimal. Die „Erscheinung“ kulminiert in einer merkwürdigen, weil vieldeutigen Ungewissheit. Ist das nun eine „Gotteserscheinung“, eine „Nicht-Erscheinung“ oder gar die Verweigerung einer „Gotteserscheinung“?

Erst Elijas Reaktion macht offenbar, dass das, was hier geschieht (oder nicht geschieht) – für ihn – zu einer Gottesbegegnung wird. Elija „hörte“, „verhüllte sein Antlitz mit seinem Mantel“, „ging hinaus“, „trat in den Eingang der Höhle. Und siehe, da kam eine Stimme zu ihm und sprach: Was hast Du hier zu tun, Elia?“.

Gott spricht zu Elia. Und Elia erkennt: der HERR hat ihn nicht preisgegeben. Der Auftrag, den der HERR ihm übertragen hatte, das Volk zurückzurufen, ist noch nicht beendet. Der EWIGE sendet Elia zurück an den Ort, an dem er (im Augenblick des höchsten Triumph) alles Vertrauen in den HERRN hatte fahren lassen. Aber es ist kein – wie wir heute sagen würden – „Reset“, kein „alles auf Anfang“. Elia erhält einen Mitstreiter, Elisa und Beide erhalten die Zusage des HERRN, dass ihr Zeugnis nicht vergeblich sein wird. 7.000 in Israel werden übrig bleiben, die ihre Knie nicht vor dem Baal gebeugt hatten.

1.Könige 19 ist eine der eigentümlichsten Erzählungen von einer Gottesbegegnung.

Die andere Seite Gottes? Die eigentliche oder die „uneigentliche“? Generationen gelehrter TheologInnen haben darüber gestritten. An der entscheidenden Stelle, an der die Gotteserscheinung sich als „leises, sanftes Säuseln“ erweist, steht im hebräischen Urtext eine Wortreihung, in der Gottes Erscheinen als „abgemagert, dünn, leise, schwach, zerstoßen, zermahlen“ qualifiziert wird - also jener inneren Verfassung entspricht, in der sich Elia zu diesem Zeitpunkt befindet.

Das ist – so wird man staunend festhalten müssen – ein sehr anderes Gottesbild, als das landläufige. Gott holt Elia nicht durch Machterweis und Überwältigung zurück ins Leben, sondern indem er sich ihm „gleich macht“ und an seiner Not teilhat. Es ist „eine Stimme verschwebenden Schweigens“ – wie Martin Buber hier übersetzt – mit der Gott Elia dazu bringt, aus der Höhle seiner Verzweiflung, Gottesferne und Todeszugewandtheit herauszutreten. Das ist – menschlich gesprochen – Pastoraltheologie pur, seelsorgerliche Zuwendung „at its best“, eine Vorlage, ein Referenztext der Bibel, aus dem sich Grundlinien einer einfühlenden, mitgehenden Seelsorge entwickeln ließen.

Eine solches „Bild“ von Gott aber entlarvt die landläufigen „Gottesbilder“, die Christen und Nichtchristen allzu gern meinen, im „Alten Testament“ der „Juden“ erkennen zu müssen. Dabei waren es über Jahrhunderte doch Christen, die ausgiebig und inbrünstig dem „machtvollen Gott“ gehuldigt, mit Martin Luther den Gott der „guten Wehr und Waffen“ besungen und jenen „Gott“ angebetet hatten, der - wie Ernst Moritz Arndt dichtete - „Eisen wachsen liess“ und „keine Knechte kannte“. Übrigens eine typische Inschrift auf Kriegerdenkmälern bis weit ins 20.Jahrhundert.

Ein Blick in die Geschichte unseres Landes jedenfalls lässt schnell erkennen, wie sehr „Gottesbilder“ und „Glaube“ über viele Generationen hinweg nahezu „selbstverständlich“ von Kriegs- und Gewaltbildern bestimmt und durchdrungen gewesen sind.

Das hat vielen, viel zu Vielen den „Glauben“ ausgetrieben, und sie am Ende dazu gebracht, sich von „der Kirche“ abzuwenden. Heute begegnet man solchen Vorstellungen nur noch selten. Gott sei Dank. In den evangelischen Kirche herrscht eine kritische Grundhaltung, wenn es etwa um die Lieferung und den Einsatz von Waffen geht, um Gewaltanwendung in den internationalen Beziehungen, um Kriegseinsätze der Bundeswehr. Ob das so bleibt?

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat auch in den Kirchen die Diskussion über die Grundsätze und Ziele der christlicher Friedensethik neu entfacht. Dass der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill, Putins Krieg und also die Tötung Tausender Ukrainer, die Vertreibung von Millionen Frauen und Kindern, die Zerstörung ihre Städte, den Tod unzähliger Soldaten gerechtfertigt hat, lässt uns hierzulande erschaudern.

So mancher reibt sich jetzt erschrocken die Augen. Die „Friedensdividende“, auf die wir nach 1990 gehofft hatten, hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Mit jedem Kubikmeter Gas, jedem Barrel Öl und jedem Waggon Steinkohle, der zu uns aus Russland kommt, zahlen wir (schon seit vielen Jahren) Putin und seinen Spießgesellen eine einträgliche „Kriegsdividende“.

Die Bundeswehr rückt jetzt wieder stärker in den Blick. Auch in der Ev. Kirche? Wohl gelitten war diese Armee in unserer Kirche – das kann man wohl so sagen – auf die Breite gesehen, bisher nicht wirklich. Das hat natürlich viel mit unserer Geschichte zu tun, mit dem Versagen der kirchlichen Eliten und Millionen „einfacher“ Gläubiger während zweier Weltkriege.

Doch wie kann, wie muss heute die angemessene Schlussfolgerung aus dem damaligen Versagen lauten? Was würde geschehen, wenn Bischöfe und Bischöfinnen unserer Kirchen dem Metropoliten der Ukrainischen Orthodoxen Kirche in einem Brief bekundeten, dass die Menschen der Ukraine nicht nur das uneingeschränkte Recht zur Selbstverteidigung haben, sondern die Bundesregierung die ukrainische Armee jetzt mit allen dazu notwendigen Waffensystemen ausstatten müsse?

Der Schweizer Theologe Karl Barth hat Vergleichbares im September 1938, auf dem Höhepunkt der sogenannten „Sudetenkrise“ getan, als Hitler die Angliederung großer Teile der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich forderte und – wir wissen es nur zu genau – im „Münchner Abkommen“ auch durchsetzte. An seinen tschechischen Kollegen, Joseph Hromadka, schrieb Karl Barth damals, „dass jetzt jeder tschechische Soldat nicht nur für die Freiheit Europas, sondern auch für die christliche Kirche stehen und fallen wird“.

Er habe, so versicherte Barth später einem besorgten Freund, damit nicht zum „Weltkrieg“ aufgerufen, sondern „um des Glaubens willen zum bewaffneten Widerstand gegen die eben stattfindende bewaffnete Drohung und Aggression“. Zehn Jahr später, bekundete die Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Amsterdam: „Krieg soll nach Gottes Wille nicht sein“. Karl Barth stimmte dem zu. Dieser Satz gilt bis heute und er muss weiterhin gelten.

Aber dass es nur eine oder die eine „Lehre aus unserer Geschichte“ gibt, wer wollte das allen Ernstes behaupten, zumal heute im Angesicht der Bedrohung, die offensichtlich auch uns gilt. Was folgt daraus für unsere Friedensethik heute, für Predigt und Seelsorge? Karl Barth hat der in seiner Generation weithin unhinterfragten Behauptung stets widersprochen, wonach sogenannte „Grenzerfahrungen“ wie Krieg, Gefangenschaft und Hunger „den Menschen“ für die „Transzendenz“, ja für „Gott“ besonders empfänglich werden ließen.

In einer Auslegung von 1.Könige 19 fragte Karl Barth: „Wo ist irgendjemand darin dem ganz Anderen begegnet und in dieser Begegnung mit dem ganz Anderen selber auch nur ein wenig anders geworden?

Die Menschheit hat ein zähes Leben. Sie scheint der angeblich in solchen Negationen ihrer Existenz zu ihr kommenden Transzendenz weitgehend gewachsen zu sein. Wenn nicht alles täuscht sind wir im besten Begriff, auch den zweiten Weltkrieg im Grunde ganz unversehrt durchzustehen.“ Doch - so Karl Barth weiter - „Feuersbrunst, Wassersnot und Erdbeben, Krieg und Pest und Sonnenverfinsterung und was es auf dieser Linie immer geben mag, sind es nun einmal nicht, die uns als solche in die wirkliche Angst und dann vielleicht in die wirkliche Ruhe versetzen könnten. Der Herr war nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer. Nein, wirklich nicht.“

Man mag Karl Barths Kritik für überzogen halten. Im Kern sind Karl Barths kritische Wort aber nahe bei dem, was uns die Geschichte von Elia bis heute enthüllt. Gott wendet sich Elia zu, „dünn, leise, schwach, zerstoßen“, in „einer Stimme verschwebenden Schweigens“, nicht im Wind, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer, Er befreit Elia gerade so – und nicht anders – aus Verzweiflung, Gottesferne und Todesverfallenheit. Das sollte uns Trost sein und zugleich Mahnung. Gerade heute. Denn die alten, für überkommen gehaltenen Bilder von Macht und Überwältigung sind zurückgekehrt. Doch Gott bedarf ihrer nicht, um sich zu erweisen. Heute nicht und morgen nicht.

Am Ende der Predigt gilt unser Blick noch einmal der Figurengruppe, die Veit Stoss für den Marienaltar geschnitzt hat. Warum - so haben Sie sich vielleicht gefragt – hat Veit Stoss ausgerechnet diese Episode aus dem 1.Königsbuch ausgewählt? Die Antwort ist einfach und zugleich kompliziert und bedürfte eigentlich einer zweiten Predigt.

Bereits in der alten Kirche wurde die Episode von Elia und dem Engel als vorausweisendes Zeichen, als Zeugnis für Christi Abendmahl gedeutet. Die Szene „Elia und der Engel“ fand deshalb Eingang in die christliche Ikonographie – zwar relativ spät, aber eben doch so, dass man diese Szene in Altären des Spätmittelalters und vor allem der Barockzeit immer wieder finden kann.

Doch ein solcher Umgang mit dem „Alten Testament“ ist uns fremd geworden. Der „Hebräischen Bibel“ nur dort Aufmerksamkeit zu schenken, wo diese nach überkommener kirchlicher Lehre auf Christus weist, degradiert die Bibel Israels zum bloßen Vorläufer des „Neuen Testament“.

Solcher Umgang mit der „Hebräischen Bibel“ aber ist nicht nur ein Affront gegenüber dem Judentum – was allein schon schwer genug wiegt, um endlich (wo noch nicht geschehen) von solcher Art der Bibelauslegung abzulassen. Solcher Umgang verstellt uns den Blick auf den EWIGEN und sein überraschendes, allen Erwartungen widersprechendes Handeln. Das hat die heutige Beschäftigung mit Elia uns – so hoffe ich – bewusst gemacht.

Als Kunstwerk aber bleibt Veit Stoss „Elia und der Engel“ gut anzuschauen. Ein fein gestaltets, anrührendes Werk.

Amen


Bernd Krebs
von Sylvia Bukowski

Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes. Lukas 9,62
ein Gebet von Sylvia Bukowski

Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes. Lukas 9,62