Geh aus, mein Herz, und suche Freud

Liedpredigt in der Stadtkirche Bad Berleburg am 28.07.1991


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Von Pfarrer Heinz-Günther Meister (1955–2020)

Liebe Gemeinde,

zu diesem Gottesdienst 1 grüße ich Sie mit dem 14. Vers aus dem 2. Kapitel von Salomos Hohem Lied:

Meine Taube in den Felsenklüften, im Versteck der Feldwand, zeige mir deine Gestalt,   
lass mich hören deine Stimme, denn deine Stimme ist süß, und deine Gestalt ist lieblich.

Nein, es war nicht der Wochenspruch. Es ist eines der mannigfachen biblischen Worte im Herzen Paul Gerhardts, die ihn zu dem Lied „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ beflügelt haben. Der biblische Vogel, welcher Frieden und Geistes-Gegenwart signalisiert, hat auch in dem Lied, welches unser Gottesdienst thematisiert, seinen Platz.

Ein Lied, das den Gottesdienst bestimmt? Muss nicht Gottes Wort, die Bibel, im Mittelpunkt jedes Gottesdienstes stehen? Ja, und noch einmal ja, davon wollen wir in unserer Gemeinde auch niemals abrücken.

Nun beginnen wir nicht gerade heute mit dem Bedenken des Wortes Gottes in unserer Kirche. Viele andere haben das schon vor uns mit Noten und mit Worten getan. Und nur der Narr kann den Wert ihrer Arbeit verkennen. Das Zeugnis der Geschichte ist wohl fähig, uns tiefer ins Wort Gottes hineinzuführen und uns gleichzeitig anzustiften zum Lob Gottes.

Das ist unser eines Ziel, dass wir als Gemeinde in das jahrhundertelange Lob Gottes einstimmen. Ein anderes Ziel ist es, weiter hinten stehenden, weniger gesungenen Strophen des Liedes zu etwas mehr Bekanntheit zu verhelfen. Denn die verdienen sie nicht minder als die vorderen.

Wir singen nun zunächst die ersten drei Strophen von Lied 503:

1. Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben; / schau an der schönen Gärten Zier / und siehe, wie sie mir und dir / sich ausgeschmücket haben, sich ausgeschmücket haben.

2. Die Bäume stehen voller Laub, / das Erdreich decket seinen Staub / mit einem grünen Kleide; / Narzissus und die Tulipan, / die ziehen sich viel schöner an / als Salomonis Seide, als Salomonis Seide.                                     

Mt, 6,28.29

3. Die Lerche schwingt sich in die Luft, / das Täublein fliegt aus seiner Kluft / und macht sich in die Wälder; / die hochbegabte Nachtigall ergötzt und füllt mit ihrem Schall / Berg, Hügel, Tal und Felder, Berg, Hügel, Tal und Felder.

Sündenbekenntnis:

Herr, unser Schöpfer, du hast unsere Erde, die zuallererst deine ist, zum Schauplatz deiner Herrlichkeit bestimmt. Das ist auch wahr und wirklich, wenn wir’s nicht erkennen können oder wollen. Wir bekennen dir, dass oft der Balken in unserem Auge steckt, der die Schönheit deiner Werke verfinstert. Auch das ist Schuld, auch das ist Sünde, die uns von dir abhält. Du, der Schöpfer alles Guten, kannst auch uns neu machen. Wir bitten dich – nimm alle Sünde weg von uns! Vergib uns um Christi Willen unsere Schuld! Herr, erbarme Dich.

Kollektengebet:

Herr, unser Vater, wir danken dir, dass du in der Geschichte deiner Kirche immer wieder Menschen die Fähigkeit geschenkt hast, dich mit Wort und Lied zu loben und zu verherrlichen. Lass uns auch das als Früchte deiner Gnade annehmen. Wir wollen ihre Worte heute gebrauchen, um dir unsern ganz persönlichen Dank für alles Gute, das uns aus deiner Hand täglich umgibt, zu sagen und zu singen. Komm nun zu uns allen durch deinen Heiligen Geist, der aus dir und deinem Sohn Jesus Christus hervorgeht, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen

Vor der Predigt werden die Strophen 4–7 gesungen.

4. Die Glucke führt ihr Völklein aus, / der Storch baut und bewohnt sein Haus, / das Schwälblein speist die Jungen, / der schnelle Hirsch, das leichte Reh / ist froh und kommt aus seiner Höh / ins tiefe Gras gesprungen, ins tiefe Gras gesprungen.

5. Die Bächlein rauschen in dem Sand / und malen sich an ihrem Rand / mit schattenreichen Myrten; / die Wiesen liegen hart dabei / und klingen ganz vom Lustgeschrei / der Schaf und ihrer Hirten, / der Schaf und ihrer Hirten.

6. Die unverdrossne Bienenschar / fliegt hin und her, sucht hier und da / ihr edle Honigspeise; / des süßen Weinstocks starker Saft / bringt täglich neue Stärk und Kraft / in seinem schwachen Reise, in seinem schwachen Reise.

7. Der Weizen wächset mit Gewalt; / darüber jauchzet jung und alt / und rühmt die große Güte des, der so überfließend labt / und mit so manchem Gut begabt / das menschliche Gemüte, das menschliche Gemüte.

Predigt:

Liebe Gemeinde,

wer sich noch an das alte Gesangbuch erinnert, das bis zum November 1969 in unserer Kirche galt, wird vielleicht noch wissen, dass unser Lied dort im Anhang unter der Nr. 24 zu finden war. Dieser Anhang war betitelt mit der Überschrift „Geistliche Volkslieder“ und darunter stand die Warnung: „Nicht für den Gemeindegottesdienst“.

Damit ist das Lied in einen Sog schneller Urteile geraten; unbedachter Urteile auch, die es – aller Beliebtheit zum Trotz – auf den Haufen mit dem Etikett „2. Wahl“ gespült haben. Und mancher, der das Lied untersucht hat, war weiter versucht es einzuordnen als Sommer- oder Gartenlied. Andere hießen es ein Naturgedicht oder ähnliches. Vermisst habe ich häufig die Feststellung, dass es ein Kirchenlied im besten Sinne ist. Und wenn ich es hier genauer benennen soll, dann ist es ein Schöpferlied. All die vielen Elemente der Natur, die Paul Gerhard nach und nach besingt, erfüllen doch nur eine Funktion: Sie wollen den Sänger und Leser des Liedes hinweisen auf den schöpferischen Gott, der der Urheber aller Lebewesen ist. Die Bäume, die Narzisse und Tulpe, die Lerche und Nachtigall, das Rotwild und die Bienen, die Schafe und der Weizen stehen niemals für sich, sondern der Dichter begreift sie als Hinweise auf Gott, der alles gemacht und zu einer wunderbaren Symphonie für Auge und Ohr zusammengefügt hat. Haben wir hier so etwas wie Gotteserkenntnis aus der Natur zu beschauen?

In diesem strengen Sinne gewiss nicht, liebe Gemeinde! Wir müssen festhalten, dass uns hier kein Missionslied vorliegt. Sondern es ist ein Gedicht, welches der Dichter erst einmal für sich selbst geschrieben hat. Wie mancher Psalmist, etwa der, dem wir den 103. Psalm verdanken, führt Paul Gerhard hier ein Selbstgespräch, von dem er dann später zu Bitten, zur Anrufung Gottes übergeht. „Geh aus, mein Herz, und suche!“, das ist eine Selbstaufforderung. „Ich selber kann und mag nicht ruhn“, da redet er weiter von sich. „Erwähle mich zum Paradei!“. In der letzten Strophe ist er dann Gegenstand der Bitte. 

Paul Gerhard, der hier die Schöpfung bedichtet, hat den Schöpfer lange zuvor schon aus dessen Wort erkannt. Für ihn steht die Bibel als alleinige Quelle fest, die verlässlich und unmissverständlich von Gott zeugt. Der Kenner der Bibel jedoch, und als solcher tritt uns der Dichter entgegen, kann in der Natur auf Schritt und Tritt die Spuren von Gottes Herrlichkeit entdecken. Die Natur mit ihrer Schönheit ersetzt uns nicht die Bibel als Erkenntnisquelle. Jedoch ist sie bestens angetan, das aus der Bibel Gelesene und Gehörte vielfältig zu besiegeln und zu bestätigen. Fast ist es überflüssig anzumerken: Paul Gerhard hat seine Beispiele nicht willkürlich auf einem Spaziergang nur zusammengelesen, sondern aus seiner reichen Bibelkenntnis zusammengetragen. Vom Täublein in den Felsenklüften haben wir im Eingangsspruch gehört. Dass etwa das Bild vom Hirten und den Schafen in der Bibel eine reiche Tradition hat, muss hier nicht eigens betont werden.

In welcher Jahreszeit nun hat Paul Gerhard seinen Spaziergang unternommen? Darüber rätselt auch mancher Betrachter des Liedes. Gewiss ist es nicht eindeutig. Narzisse und Tulipan gehören in die ersten Frühlingstage hinein, während das Honigsammeln, selbst der Schlag der Nachtigall uns später im Jahr begegnen. Aber ist das eigentlich störend? Ist es nicht vielmehr wunderschön, wenn der Dichter Naturereignisse, die sich in unterschiedlichen Monaten abspielen, zusammenschauen kann? Ich meine ja, denn die Aufgabe des Poeten ist es doch, auf geringem Raum das wirklich Wesentliche zu verdichten. Und dies ist Paul Gerhard auf seinem Spaziergang durch die Natur in den ersten sieben Strophen trefflich gelungen.

Mit der achten Strophe aber hält er inne, da besinnt er sich. Er zieht eine Bilanz seiner Wanderung durch die Natur. Mit der achten Strophe erreicht er auch gleichsam den Gipfel des Gedichts. Vom Gipfel geht es nun nicht bergab, sondern zunächst kaum merklich, zunächst kaum die Begriffe wechselnd, verändert er nun seinen Stoff und behandelt ein völlig neues Thema.

Weil nun die achte Strophe der Gipfel des Liedes ist, möchte ich auch, dass wir sie inmitten der Predigt singen:

8. Ich selber kann und mag nicht ruhn, / des großen Gottes großes Tun / erweckt mir alle Sinnen; / ich singe mit, wenn alles singt, / und lasse, was dem Höchsten klingt, / aus meinem Herzen rinnen, / aus meinem Herzen rinnen.

Liebe Gemeinde, es war wohl zu spüren, dass der Wanderer durch die Schöpfung nun zu einem Ziel gekommen ist. Er hatte sein Herz, der barocke Mensch versteht darunter den Sitz seiner Empfindungen, auf die Reise geschickt, um Freude zu finden. Nun ist sein Herz voll davon. Und wir erleben etwas vom rechten Umgang mit irdischer Freude. Er lässt sie umschlagen ins Lob Gottes. Aus dem Herzen rinnt es nun heraus, auf dass es dem Höchsten klingt. Mindestens hier ist das Lied für unsere Existenz anwendbar. Es mag auch für uns, ich wünsche es jedenfalls allen, immer wieder Momente der freudigen Besinnung geben. Von der Freude zum Lob des Schöpfers ist es nur ein Schritt, wie wir hier sehen dürfen. Aber oft lahmt unser Bein vor dem Schritt und es schließt sich unser Mund, wo er sich öffnen sollte.

Liebe Gemeinde, an dieser Stelle möchte ich mich einem schwerwiegenden Einwand widmen, der nicht nur gegen Paul Gerhardt, nicht nur gegen ergreifende Gedichte über die Natur vorgebracht wird. Der Einwand, mit dem wir wirklich nicht leichtfertig umgehen sollten, heißt sinngemäß: In einer Welt, die Auschwitz gesehen hat, ist es nicht mehr erlaubt, unbefangen schöne Gedichte zu schreiben, vielleicht auch zu hören und zu bedenken.2 Und wir brauchen uns auch nicht auf etwas zurückliegendere Zeiten zu beschränken. Was ist mit einer Natur, in der Sportplätze nicht benutzt werden können, weil sie möglicherweise dioxinverseucht sind? Was ist mit der Ernte? Ob in diesem Herbst wieder Getreide, Kartoffeln vernichtet werden müssen, damit die Preise stabil bleiben? Das sind doch Dinge, die dem Zeitgenossen auch zur Natur einfallen. Können wir so tun, als habe sich, seit Paul Gerhardt vor rund 340 Jahres dies Lied schrieb, nichts verändert?

Nun kann ich eines nicht glauben. Nämlich dies, dass der nach Martin Luther wohl bedeutendste Liederdichter unserer Kirche die Natur völlig problemlos erleben konnte. Unabhängig von persönlichen und beruflichen Rückschlägen war das Leben des 1607 Geborenen von etwas ganz anderem bestimmt. Von seinem 11. bis 41. Lebensjahr, während seiner Jugend und des besten Mannesalters, wütete in ganz Europa der Dreißigjährige Krieg, der niemanden unberührt ließ. Und glaube keiner, dass dessen Folgen schon 1653 überwunden sind, als unser Lied veröffentlicht wird. Da wehklagen noch Witwen und Waisenkinder weinen. Da ist noch lange nicht aller Schutt des Krieges beiseite geräumt. Was aber tut der jetzt 46jährige, als er das Lied dichtet? Flieht er aus dieser tränenreichen Wirklichkeit, um sich mit dem rauschend schönen Sommerlied zu betäuben?

Wenn wir nicht mehr von Paul Gerhardt wüssten, könnten wir diesem Irrtum erliegen. In dem Lied „Befiel du deine Wege“3 weiß er auch von Schmerz und Sorgen zu sagen, wie auch von Teufel und Zweifel. Und seine Passionslieder, allen voran „O Haupt voll Blut und Wunden“4 belegen doch, dass er auf feinsinnige Weise Christi Kreuzesleiden bedenken kann. Er ist beileibe keiner, der die Augen vor Not und Leid verschließt.

Aber er ist einer, der weiß, dass sich die ganze Wirklichkeit eben nicht in Not und Leid erschöpft. Die Erde ist noch immer die, die Gott als Schauplatz seiner Herrlichkeit geglaubt und angenommen haben will. Die Welt wird noch immer von Gott regiert – den schrecklichen Dingen, die wir Menschen anrichten, zum Trotz. Es ist und bleibt die Welt, in der auf Luthers Erklärung zum 1. Artikel zu hören ist:

Ich glaube, daß mich Gott […] mit allem, was Not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit.“5

Wenn Gott nicht immer wieder, auch in der Gegenwart, auch auf dem Balkan und im Nahen Osten seine Hand ins Getriebe hielte, dann wäre die Welt schon längst zum Teufel gegangen. Aber lasst uns Gott danken! So weit hat er es noch nicht kommen lassen. Was Luther für sich persönlich bekennt, das gilt auch für den ganzen Kosmos, in dem wir leben. Gott sorgt dafür, dass seine Welt nicht ins Chaos rutscht. Er wendet auf seine Weise das Schlimmste ab. Wenn ich nur an die Möglichkeit denke, dass die Atommächte die Erde nicht einmal, sondern achtzig, neunzig, hundertmal vernichten könnten. Seit Jahrzehnten. Ist es nicht ein Zeichen für Gottes Willen, die Erde zu erhalten, dass sie sich ob dieser Bedrohung immer noch um die Sonne dreht? Wie hat Gott es vorzeiten Noah verheißen: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“6 – Wir sind heute morgen wach geworden. Konnten uns aufmachen zur Kirche, zum Gottesdienst. Das ist ein Zeichen dafür, dass Gott zu seinem Versprechen steht, welches Noah empfangen durfte. Er macht es wahr bei jedem Aufschlag meines Augenlides und zwischen jedem Pulsschlag.

So können wir als Gemeinde Jesu Christi wirklich nicht ruhn, alles zum Lobe Gottes zu tun – „mit Herzen, Mund und Händen“.7

Gleichwohl tummeln wir uns noch immer auf dem Gipfel der achten Strophe und sind noch nicht weitergeschritten, haben noch nicht bedacht, dass der große Brandenburger Dichter mit seinen letzten Strophen ganz andere Türen öffnet. Er kann nicht nur, wie es in der ersten Liedhälfte scheint, einzelne Beobachtungen aus der Bibel aneinanderreihen, sondern er hat den großen Zusammenhang des Geschehens zwischen Gott und Mensch im Blick. Und das ist zusammenhängendes Heil.

Gott sorgt durch die Schöpfung für den Menschen, dass er für seine Sinne genug bekommt. Das Auge darf schauen, die Zunge schmecken, das Ohr lauschen und die Nase schnuppern. Und die Sommerzeit mit ihrer erlebten Herrlichkeit ist seit alter Zeit ein Gleichnis für Gottes umfassende Sorge um den Menschen,8 die mit dem Tod nicht endet. Von der Natur zieht Paul Gerhardt den großen Bogen hin zum Garten Eden, aus dem sich der Mensch durch seine Schuld ausgeschlossen hat. Dennoch steht Gott bereit, diesen Garten neu zu errichten. Der himmlische Garten ist die eigentliche Bestimmung des Menschen. Ob der Dichter auf diese Weise nun doch Mission betreibt? Ob er einladen möchte, dass andere in sein Ich einstimmen? Das glaube ich nun wirklich, denn das Lied ist ja auch als Gebrauchslied geschrieben. Gesungen wird es dann Eigentum der Gemeinde. Und was ich mir als Eigentum erwerbe, ist dazu angetan, mich ständig auf den Weg zu Gott zu bringen. So gibt es wohl keine wichtigere Bitte für unser Leben als die, die in der letzten Strophe ausgesprochen wird: „Erwähle mich zum Paradeis.“ – Hier finden wir, was wir alle im Letzten nötig haben. Gottes Geleit aus der Schöpfung, die uns mit Schönem erfreut, aber auch mit Elendem belastet, dürfen wir uns erbitten, wir müssen es aber auch.

Paul Gerhardt erkennt, dass er – und wir mit ihm – die Schönheit der Erde nicht für alle Zeit festhalten kann. So wie der Winter die Pflanzen verbirgt, wird eines Tages der Tod uns ganz aus ihr herausnehmen. Das Geschöpf kann dann nichts mitnehmen, kann sich sein Paradies auch nicht selbst bauen. Dem steht die Sehnsucht des Menschen nach einer unvergänglichen Heimat gegenüber.

Aber nur leere Hände kann Gott füllen. Leere Hände, zu denen ein bittender Mund gehört. An der leeren Hand will er uns nehmen und zu seinem Garten führen, der nicht dem Wechsel der Jahreszeiten unterworfen ist. Hier werden nun die Bilder vom Garten und auch vom menschlichen Wesen auf den Kopf gestellt. Aber das ist dann notwendig, wenn wir von Gottes Wirklichkeit in unserer Sprache reden. An einem reicht da unsere Vorstellung nicht weiter.9 Gottes Wirken steht unserem Erleben dann gegenüber. Die letzte Reise des Menschen, die wir mit Verwelken gleichsetzen, ist in Wirklichkeit die Reise des ewigen Ergrünens. Denn Gottes Paradiesgarten kennt keinen Herbst und Winter. Er liegt im unaufhörlichen Sommer seiner Gnade.

Ich freue mich, dass uns Paul Gerhardts Lied die Schönheit der Erde vor Augen malt und zugleich einlädt in Christi Garten.

Amen

post praedicationem:

9. Ach, denk ich, bist du hier so schön / und lässt du's uns so lieblich gehn / auf dieser armen Erden: / was will doch wohl nach dieser Welt / dort in dem reichen Himmelszelt / und güldnen Schlosse werden, und güldnen Schlosse werden!

10. Welch hohe Lust, welch heller Schein / wird wohl in Christi Garten sein! / Wie muss es da wohl klingen, / da so viel tausend Seraphim / mit unverdrossnem Mund und Stimm / ihr Halleluja singen, ihr Halleluja singen.
post annuntiationem mortui:

11. O wär ich da! O stünd ich schon, / ach süßer Gott, vor deinem Thron / und trüge meine Palmen: / so wollt ich nach der Engel Weis / erhöhen deines Namens Preis / mit tausend schönen Psalmen, mit tausend schönen Psalmen.

12. Doch gleichwohl will ich, weil ich noch / hier trage dieses Leibes Joch, / auch nicht gar stille schweigen; / mein Herze soll sich fort und fort / an diesem und an allem Ort / zu deinem Lobe neigen, zu deinem Lobe neigen.
post publicandum:

13. Hilf mir und segne meinen Geist / mit Segen, der vom Himmel fleußt, / dass ich dir stetig blühe; / gib, dass der Sommer deiner Gnad / in meiner Seele früh und spat / viel Glaubensfrüchte ziehe, viel Glaubensfrüchte ziehe.

14. Mach in mir deinem Geiste Raum, / dass ich dir werd ein guter Baum, / und lass mich Wurzel treiben. / Verleihe, dass zu deinem Ruhm / ich deines Gartens schöne Blum / und Pflanze möge bleiben, und Pflanze möge bleiben.
ante benedictionem:

15 Erwähle mich zum Paradeis / und lass mich bis zur letzten Reis / an Leib und Seele grünen, / so will ich dir und deiner Ehr / allein und sonsten keinem mehr / hier und dort ewig dienen, hier und dort ewig dienen.

 

1 Herausgegeben im Einverständnis mit den Erben und Kindern von Heinz-Günther Meister von Prof. Dr. Marco Hofheinz. Mit herzlichem Dank an Hannah Meister.

2 Vgl. Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft (1951), in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. Ohne Leitbild. Gesammelte Schriften Band 10/1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1977, (11–30) 30: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ Fernerhin: Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, hg. von Gerd Kadelbach, st 11, Frankfurt a.M. 1970.

3 EG 361,1–12.

4 EG 85,1–10.

5 BSLK 510,33.39–511,5 (Martin Luther, Kleiner Katechismus, 1529).

6 Gen 8,22.

7 EG 321,1 (Nun danket alle Gott).

8 Vgl. Christian Link, Die Welt als Gleichnis. Studien zum Problem der natürlichen Theologie, BEvTh 73, München 21982.

9 Der Satz ist unvollständig. Hier liegt eine crux interpretum vor, die vom Herausgeber belassen wurde. Der Satz könnte vielleicht heißen: „Am Ende reicht da unsere Vorstellung nicht aus.“


Heinz-Günther Meister