Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1902-1966)
Durch seine Familie kam Weber sowohl mit dem rheinischen Reformiertentum als auch mit Freien evangelischen Gemeinden in Kontakt. Von großer Bedeutung war die Prägung durch die Schülerbibelkreise, in denen er aktiv mitarbeitete. Von hier aus ist möglicherweise sein Entschluß zum Theologiestudium zu verstehen. Während der Studienjahre in Bonn und Tübingen (1921-25) orientierte sich W. hauptsächlich an Adolf Schlatter und seiner Theologie, aber auch von Karl Barth empfing er wichtige Impulse. Kirchliche Lebenswirklichkeit lernte er während seines Vikariats in Herchen an der Sieg (1925-27) kennen, wo er auch als Lehrer an der Realschule arbeitete.
Nach dem Zweiten Theologischen Examen wurde er vom Reformierten Bund als Dozent an die Theologische Schule Elberfeld berufen, zu deren Erfolg er, später als Direktor, maßgeblich beitrug (1928-33). In dieser Zeit befestigte er die lebenslange Freundschaft mit dem rheinischen Pfarrer Wilhelm August Langenohl. Durch seine Lehrtätigkeit und durch erste theologische Veröffentlichungen wurde das reformierte Profil von Webers Denken mehr und mehr wahrnehmbar.
Die politischen und kirchenpolitischen Veränderungen des Jahres 1933 stellten auch für W. einen folgenschweren Einschnitt dar. Im Mai wurde er sowohl bei der NSDAP wie auch bei den NS-treuen »Deutschen Christen« Mitglied; hierfür gab er vor allem eine volksmissionarische Motivation an. Reichsbischof Ludwig Müller berief Weber im September als reformierten Vertreter in das Geistliche Ministerium nach Berlin, wo dieser an der Umsetzung der deutsch-christlichen Gleichschaltungspolitik beteiligt war.
Gleichzeitig unternahm er mehrere Versuche, den innerkirchlichen Streit zu befrieden, stand aber dem eigentlichen Anliegen der entstehenden Bekennenden Kirche fern. Nach der Berliner Sportpalastkundgebung im November trat er aus der deutsch-christlichen Bewegung aus, weil er sich mit den dort deutlich gewordenen Zielen nicht mehr identifizieren konnte. Im Dezember trat er als Geistlicher Minister zurück, arbeitete aber als kommissarischer Vertreter des reformierten Bekenntnisses bis Ende 1934 weiter mit.
Zum Sommersemester 1934 wurde Weber zum Professor für Reformierte Theologie an der Universität Göttingen ernannt. Kurz danach veröffentlichte er mit der zweibändigen »Bibelkunde des Alten Testaments« sein erstes größeres Lehrbuch. Darin erkannte er das AT als Teil des christlichen Kanons an, benutzte aber vielfach antisemitische Stereotypen. Einerseits waren seine eigenen Überzeugungen hier wie in anderen Punkten durch die nationalsozialistische Ideologie bestimmt. Andererseits erkannten auch seine kirchenpolitischen Gegner durchaus Webers »Orthodoxie« in Lehre und Forschung an.
Vor allem zu Calvin, dessen Hauptwerk »Institutio Christianae Religionis« er übersetzte (1936-38), publizierte Weber In reduziertem Maße betätigt er sich weiter kirchenpolitisch, vor allem als theologischer Experte des Reformierten Arbeitsausschusses (RAA), der der Reformierten Landeskirche Hannovers nahestand. 1936 wurde er Obmann des Nationalsozialistischen Dozenten-Bundes (NSDB) in der Göttingen theologischen Fakultät. Erst im Sommer 1938 promovierte er, und zwar bei Emanuel Hirsch, dessen Nachfolger als Dekan er im folgenden Frühjahr wurde.
Während der Jahre 1940 bis 1945 war W. als assoziiertes Mitglied Vertreter der Reformierten im Geistlichen Vertrauensrat. In diesem Rahmen beteiligte er sich an einem Brief an Bischof Wurm, in dem der GVR die Ausstoßung »nichtarischer« Christen und Christinnen aus der Deutschen Evangelischen Kirche theologisch rechtfertigte - hier hatte Weber den Rahmen des christlichen Bekenntnisses verlassen. Im Deutschen Reformierten Kirchenausschuß, dem Nachfolgeorgan des RAA, setzte sich Weber für die Wahrung reformierter »Belange« ein, näherte sich daneben einigen Wuppertaler Mitgliedern der Bekennenden Kirche sowohl persönlich wie inhaltlich an. Als Dekan seiner Fakultät amtierte Weber bis zum Kriegsende, mit Ausnahme des Jahres 1943, als er zur Wehrmacht eingezogen wurde und in einem Kriegsgefangenenlager in Oberschlesien Dienst tat.
Der Übergang in die Nachkriegszeit verlief für Weber äußerlich weitgehend unproblematisch; sein Entnazifizierungsverfahren endete 1949 mit der Entlastung (Kategorie V). Dennoch empfand er sein Dasein als sehr von seinem Vorleben geprägt. Gegenüber Karl Barth und anderen (z. B. Martin Niemöller) bekannte Weber seine Schuld - und erfuhr dabei Vergebung. Trotz seines ehrlichen Schuldeingeständnisses war er aber nicht frei davon, in der Rückschau seine Vergangenheit an einigen Stellen apologetisch umzudeuten.
In den letzten Jahren bis zu seinem plötzlichen Tod 1966 verlief Webers Leben bei weitem nicht so bewegt wie zuvor. Theologisch zeigte er sich eindeutig von Karl Barth beeinflußt, über dessen »Kirchliche Dogmatik« er ab 1950 fortlaufend in präzisen Zusammenfassungen berichtete. Von Webers eigenen theologischen Werken sind besonders die zweibändigen »Grundlagen der Dogmatik« (1955 / 1962) zu nennen, in denen er neben einer breiten Aufnahme der Tradition und der Anlehnung an Barth vor allem durch die Verarbeitung personalistischer Denkstrukturen ein eigenes Profil zeigte. In seinen Seminaren an der Universität, aber auch in vielen Vorträgen und Aufsätzen behandelte er immer wieder die Anthropologie.
Wie ein roter Faden zieht sich die Beschäftigung mit Calvin und den reformierten Bekenntnisschriften durch seine Arbeit, weil es ihm ein wichtiges Anliegen war, die Relevanz reformatorischer Theologie in der Gegenwart aufzuzeigen. Aber auch zu neueren Themen wie der Frauenordination oder Wiederaufrüstung und Atombewaffnung nahm er (hier befürwortend - dort ablehnend) Stellung; in politischen Fragen äußerte er sich oftmals gemeinsam mit Ernst Wolf, der ihm unter den Göttinger Kollegen am nächsten stand. Dekan der theologischen Fakultät war Weber auch in den fünfziger Jahren (1950/51 sowie 1957/58), ferner amtierte er als Rektor der Universität Göttingen (1958/59) sowie als erster Gründungsrektor der Universität Bremen (1964-66).
Kirchliche Verantwortung übernahm er als Presbyter der reformierten Gemeinde (seit 1958), als Landessynodaler der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland (1963-65) sowie als Mitglied im Moderamen des Reformierten Bundes (1950-65). - Weber war oft in der ersten Reihe zu finden, beispielsweise es als deutsch-christlicher reformierter Geistlicher Minister 1933, als bedeutender deutscher Vertreter der Barthschen Theologie nach 1950, als Rektor der Göttinger und der Bremer Universität, sowie an anderen Orten. Durch seine Lehrtätigkeit und seine Veröffentlichungen prägte er über 32 Jahre lang nicht nur die studentische Art, reformierte Theologie zu treiben.
Er lebte in vier politischen Systemen und lehrte in allen theologischen Disziplinen (Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Praktische Theologie). Seine rezeptive Begabung und seine pädagogischen Fähigkeiten, seine Auffassungsgabe und sein Darstellungsvermögen hoben ihn hervor, doch nicht immer dienten ihm seine Anlagen zum Guten.
Man kann Webers Leben auf mehreren Ebenen als ein »gebeugtes Leben« bezeichnen. Einmal in dem Sinne, daß er als gläubiger Christ sich dem Wort Gottes und den kirchlichen Bekenntnissen beugte. Zum zweiten war es ein »gebeugtes Leben«, weil W. sich vielfach den politischen Verhältnissen beugte und sich willig den Herrschenden unterordnete. Besonders im »Dritten Reich« beugte er sich den politischen Gegebenheiten derart, daß dies einer Beugung unter das Wort Gottes konträr gegenüberstand. Drittens: Als Weber sein Fehlverhalten erkannte und bereute, nahm er sein Leben wahr als von der Last der Vergangenheit »gebeugt«.
Quelle: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Dort ein Verzeichnis der Veröffentlichungen Otto Webers sowie von Büchern und Artikeln über ihn. Die Veröffentlichung auf reformiert-info erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Traugott Bautz.
Literatur:
- Vicco von Bülow, Otto Weber (1902-1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKZG.B 34), Göttingen 1999
Fürchtet euch nicht!
Karl Barth zur Weihnacht
Die Fleischwerdung des Wortes
Fürchtet euch nicht!
Erwägungen zum Christfest
Die Fleischwerdung des Wortes
Johannes 1,14: Und das Wort ward Fleisch und nahm Herberge unter uns und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als die eines Einziggeborenen seines Vaters, der voll Gnade und Wahrheit ist.
„Unter ‚Wort‘ versteht der Evangelist, woher er den merkwürdigen Begriff (Logos) auch gehabt haben mag, nach dem ganzen Zusammenhang unzweideutig eine faktisch und konkret an die in dieser Welt lebenden Menschen ergangene, ergehende und von ihm selbst vernommene göttliche Anrede. Kein erkenntnistheoretisches und kein metaphysisches Prinzip. Nicht ‚den Sinn‘ und nicht ‚die Kraft‘ und nicht (wie Faust ‚getrost‘ schreibt) ‚die Tat‘, sondern (obwohl Faust ‚das Wort so hoch unmöglich schätzen‘ kann) wirklich das Wort, aber nicht das Wort im allgemeinen, nicht die Idee des Wortes, sondern das bestimmte, wenn auch unvergleichliche, für den Evangelisten mit derselben Gewissheit wie seine eigene Existenz geschehene und geschehende und mit der Selbstevidenz eines Axioms überzeugende Ereignis der Rede Gottes.
Gott hat geredet und redet noch. Alle Erkenntnistheorie und Metaphysik, alles, was man von Gott als Sinn und Kraft und Tat wissen und sagen mag, ist darin aufgehoben und erledigt, dass Gott geredet hat und noch redet. Gott! Was er unter solcher Gottesrede versteht, hat der Evangelist in den unserem Text vorangehenden Versen klar gemacht: Ein Wort, das dort gedacht und gesprochen ist, wo Gott selber ist, im ewigen ‚Anfang‘ aller Dinge, ein Wort, das vorbehaltlos Gottes eigene Art, Natur und Wesen hat, das ohne alle Gleichnisrede sein Wort ist. Als solches das Wort, durch das alles geworden ist – und das das ‚Leben‘, die Erlösung in sich trägt, deren ‚Licht‘ der Offenbarung den Menschen leuchtet auch in ihrer Finsternis. Nicht erkannt von der Welt, nicht aufgenommen da, wo es ursprüngliches Heimatrecht, ja Herrenrecht hat, ist es doch kräftig, doch siegreich, schafft es sich selber seine Hörer, seine Empfänger, seine Gläubigen, weil es dieses, weil es Gottes Wort ist.
... es ‚ward Fleisch‘. Es ‚war da als Fleisch‘, so muss man sofort interpretieren, um alle verkehrten Vorstellungen, die sich aus dem deutschen Begriff ‚Werden‘ hier einstellen könnten, auszuschließen. Keine Verwandlung, sondern ein unbegreifliches Zugleichsein meint Johannes. Ohne aufzuhören, jenes ewige göttliche Subjekt zu sein, ist das Wort da in der Zeit: konkret, kontingent, gegenständlich, erkennbar als ein Gegenüber des Menschen. Als ein wirkliches, also als ein menschliches Gegenüber; denn nur der Mensch kann dem Menschen wirklich gegenüberstehen.
Das ist die Wirklichkeit der Offenbarung nach dem allgemeinsten Sinn unseres Textes: die Gottesrede, von der das Evangelium Zeugnis ablegt, ist (ohne irgend einen Abstrich an ihrer Majestät und Autorität, sondern so gerade majestätisch und autoritativ!) ein Mensch. Umgekehrt ausgedrückt: der Mensch, von dem das Evangelium berichtet, ist – nicht das ‚Symbol‘, nicht die ‚Erscheinung‘ der Gottesrede an den Menschen, nicht ihre höchstmögliche Ausprägung im Relativen, sondern ist selbst die Gottesrede, die eine, einzige, die erste und letzte. Dieses ‚ist‘ ist das Weihnachtsevangelium.
Aber der Begriff ‚Fleisch‘ sagt mehr als bloß ‚Mensch‘ und Fleischwerdung mehr als Menschwerdung. ‚Fleisch‘ (Sarx) heißt im Neuen Testament nicht die menschliche Natur im allgemeinen und Idealen, sondern konkret: die Menschennatur, in der ich mich vorfinde, die Natur ‚Adams‘, die Natur, die dem Menschen unter dem Zeichen seines Sündenfalls, im Gebiet der ‚Finsternis‘, in seinem prinzipiellen Widerspruch gegen Gott und mit sich selbst eigen ist. Es heißt nicht: das Wort ward ein Edelmensch, ein Heros, eine ‚Persönlichkeit‘, sondern es heißt: ‚in unendlicher Gnade vereinigt es sich mit den Unflätigen und Gemeinen‘ (Calvin, Institutio II 13,2). ...
Nicht als von weitem strahlender König, Held oder Weiser tritt der Mensch, der die Gottesrede ist, der ‚Finsternis‘ der anderen gegenüber, sondern – ‚das Licht scheint in der Finsternis‘ – als gewöhnlicher Mensch den gewöhnlichen Menschen. Das ist die Unbegreiflichkeit, daran liegt aber auch die Wirklichkeit der Offenbarung, das unterscheidet das Weihnachtsevangelium von allen wehmütig-optimistischen Träumereien: das Wort Gottes ist da, wo wir selbst sind: nicht, wo wir vielleicht gerne wären, nicht auf einer der Höhen, die wir bei einigem Glück und gutem Willen gelegentlich wohl erklettern können, sondern da, wo wir uns, ob König oder Bettler, tatsächlich vorfinden: in der Zerrissenheit, in der wir (dem Tode entgegen!) erscheinen im ‚Fleische‘. ... Er [die Knechtsgestalt in Philipper 2,2] begegnet dem Rätsel unserer ‚Finsternis‘ auf seinem eigenen Boden. ...
Man beachte an diesem entscheidenden Satz: ‚Das Wort ward Fleisch‘ unseres Textes noch Folgendes. Einmal: Man darf das souveräne Übergewicht der ersten über die zweite Seite dieser Gleichung nicht übersehen. Das ‚Wort‘ ist Subjekt, das ‚Fleisch‘ ist Prädikat, und dabei bleibt es. Das Wort ist die Person, die hier Mensch ist. (Nicht ist es etwa eine menschliche Person, die hier das Wort ist!) Das Wort redet, das Wort handelt, das Wort offenbart, im Fleische, als Fleisch, aber das Wort, nicht das Fleisch als solches. ...
‚Das Wort ward Fleisch‘ bedeutet eine nicht aufzulösende Gleichsetzung des Ungleichen, ein Rätsel, entsprechend dem Rätsel der ‚Finsternis‘, der das Wort im Fleisch begegnet. Das fleischgewordene Wort ist ‚wahrer Gott und wahrer Mensch‘, nicht das eine oder das andere und nicht ein höheres Drittes. Die Einheit seiner Offenbarung ist keine synthetische, sondern eine dialektische Einheit: sie muss immer wieder erfragt werden, und sie muss sich als Antwort immer wieder ergeben.
Endlich: Die Fleischwerdung des Wortes ist eine Handlung Gottes an dem Menschen, dem er sich offenbart. Sie ist als Problem nicht eindeutig. Es gibt die Möglichkeit des Ärgernisses. Es gibt ohne die Handlung Gottes in ihr sogar nur die Möglichkeit des Ärgernisses, nur die Möglichkeit, Christus als der Zöllner und Sünder Geselle anzusehen und als Gotteslästerer ans Kreuz zu schlagen. Wer Ohren hat, zu hören, der hört. ‚Der Geist macht lebendig, das Fleisch ist nichts nütze‘, lesen wir bei Johannes an späterer Stelle (6,63). – Offenbarung bleibt Offenbarung, Zerreißen des Geheimnisses Gottes, so könnten wir diese Erläuterungen zusammenfassen. Oder: Ohne das Kreuz von Golgatha ist auch an der Krippe zu Bethlehem das Evangelium nicht zu hören. ...“
Aus einer „Weihnachtsbetrachtung“ in den "Münchner Neuesten Nachrichten" 1926
Fürchtet euch nicht!
„‚Fürchtet euch nicht!‘ So der Engel in der Christnacht zu den Hirten auf dem Felde nach der Weihnachtsgeschichte Ev. Lukas 2. ...
Aber wer fürchtet sich denn, sodass dieser tröstliche Befehl oder dieser befohlene Trost am Platze wäre? ... Wer denkt denn an Furcht, wenn er den Seinigen die Lichter anzündet? Und mit welcher Kraft und Überzeugung dann: ‚Fürchtet euch nicht!‘? ...
Machen die Theologen nicht weithin den Eindruck, die Furchtlosesten unter allen zu sein? Und darum vielleicht nicht eben die Kompetentesten und Mächtigsten, den anderen jenen Befehl und Trost mitzuteilen? ...
Man könnte darauf antworten wollen, dass wir Menschen doch alle, und die scheinbar Fröhlichsten und Sichersten am meisten, im verborgenen eine große Furcht in uns tragen. ... Und so fürchten wir uns: der eine vor dem, was sein Nächster, auf den er angewiesen und in dessen Hände er gegeben ist, ihm bereiten und versagen könnte, der andere vor dem Alt- und Einsamwerden, der andere vor dem Schicksal, das ihm in den Sternen vorbehalten sein möchte, der andere vor dunklen Gewalten, die er in seinem Kopf und Herzen mächtig fühlt, und also vor sich selber, der andere vor dem drückenden Geheimnis des Lebens, wie es ihn aus den Augen jedes Tieres und aus seinen eigenen hungrigen Augen im Spiegel anschaut, und wir alle vor der Pforte des Todes, die unerbittlich irgendwo auf uns wartet.
... Aber wie unsere Weihnachtsfeiern ohne Furcht unter einem gewissen Ausweichen vor aller Furcht vor sich zu gehen scheinen, so scheint die Lebensfurcht, die wir alle irgendwie als unser böses Geheimnis kennen, in einer Tiefe ihren Ort zu haben, in der sie von allen Weihnachtsfeiern unberührt bleibt. ...
Angesichts dieses Sachverhaltes dürfte dies zu bedenken sein: das Sichfürchten, dem die Weihnachtsgeschichte ihr triumphierendes ‚Fürchtet euch nicht!‘ gegenüberstellt, ist gar nicht die uns allen nur zu wohl bekannte Lebensfurcht. Nicht um der finsteren Nacht willen haben die Hirten von Bethlehem sich so sehr gefürchtet, sondern weil der Engel des Herrn zu ihnen sprach ... Oder wenn sie sich auch um der finsteren Nacht willen gefürchtet haben sollten, so wurde doch diese kleine Furcht alsbald verschlungen von der großen Furcht ... vor der Offenbarung Gottes. ...
Bloße Lebensfurcht, wie tief und stark sie auch sei, ist die Furcht des Kindes in der Nacht. Sie ist nicht sinnvoll, denn sie ist nicht Respekt, sondern Aufregung. ... wir können uns gegen sie wehren, wenigstens ein bisschen, wir können uns über sie hinweg trösten. Weihnacht gerade scheint neben Fasching und anderen programmgemäß frohen Tagen weithin als eine Aufforderung, sich über seine und die allgemeine Lebensfurcht ein bisschen hinwegzutrösten, verstanden zu sein. Die andere, die große Furcht, die Furcht vor der Verantwortung unseres kurzen Lebens, vor dem ewigen Gott ... diese Furcht ist nicht durch die Nacht erzeugt, sondern durch den Engel des Herrn in der Nacht. ‚Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.‘ Hier ist es ... der Mühe wert, sich zu fürchten. Hier geht es auf Herz und Nieren ... Hier gibt es aber auch kein Entrinnen, kein Sich-hin-wegtrösten. ...
Der Furcht Gottes, in die uns die Offenbarung treiben müsste, steht das ‚Fürchtet euch nicht!‘ sinnvoll gegenüber. ... Derselbe Engel, vor dem sie [die Hirten] sich fürchteten mit großer Furcht, gab den Befehl und den Trost ... Derselbe Engel verkündete die große Freude. Die große Freude – ‚Euch ist heute der Heiland geboren!‘ – war die Verneinung der großen Furcht. Aber nur als Verneinung der großen Furcht, nur als Aufhebung der Furcht vor Gott durch das ewige Erbarmen Gottes, nur als Vergebung für solche, die sich nicht selbst rechtfertigen können, war sie die große Freude. Die furchtlose Weihnachtsfeier muss die unweihnachtliche Furcht neben sich haben. Aus diesem Zirkel gibt es kein Entkommen. Aber warum sollte es kein Zerbrechen dieses Zirkels geben: Weihnacht in der Furcht des Herrn und darum Freiheit von der Furcht vor Gott und darein eingeschlossen Freiheit auch von der anderen Furcht, der uns nur zu bekannten Lebensfurcht? ...“
Aus einer "Weihnachtsbetrachtung" in den "Münchner Neuesten Nachrichten" 1929
Erwägungen zum Christfest
„Christliche Weihnacht ist teilweise noch bis tief in die neuere Zeit hinein ohne unser ganzes weihnachtliches Drum und Dran gefeiert worden und könnte jederzeit wieder ohne das gefeiert werden. Ich sage nicht, dass das geschehen müsste. Aber wer etwa auf die Grenze der allgemeinen Weihnachtsfreude stoßen sollte, wer etwa heimlich seufzte, dass er nicht wisse, wie er eigentlich sinnvoll, ehrlich und wirklich Weihnacht feiern solle, dem wäre in Erinnerung zu rufen: Es gibt irgendwo jenseits des Ganzen dieser allgemeinen Weihnachtsfreude und nicht bedingt durch den Apparat und dessen Erfolg oder Nicht-Erfolg auch noch eine andere Weihnacht. ...
Ich will aber auf dies hinaus: das Weihnachtsfest ist das Christfest. Ist es das, dann mag es – um dies gleich vorwegzunehmen – gut und gerne in den uns allen lieben, überkommenen Formen und Gestalten gefeiert werden, ohne dass wir uns über deren ursprünglich heidnisches Wesen graue Haare wachsen zu lassen brauchen ... Das Christfest wäre die Rechtfertigung des Weihnachtsfestes in der ganzen – weltlichen und christlichen! – Problematik, von der es umgeben ist. ...
An der Frage, ob wir an der Weihnacht das Christfest feiern, würde es sich wohl entscheiden, ob wir es ... überhaupt verstehen, Feste zu feiern. Feiern heißt ja eigentlich einfach: ruhen. Ein richtiges Fest müsste ein Triumph der Ruhe sein. Die wirkliche Ruhe, die wir nötig haben und nach der wir uns eigentlich alle sehnen, ist aber keineswegs die Ruhe von unserer äußeren Arbeit. Die Mühsal, von der wir eigentlich ruhen möchten, von der ruhen zu dürfen das wahre Fest wäre, ist die Mühsal der schon erwähnten Flucht, auf der wir alle uns ein wenig dauernd befinden: unserer Flucht vor uns selbst und vor den Mitmenschen, die ebenso dran sind wie wir selbst. ...
Es müsste ja die Ruhe des richtigen, des sinnvoll, ehrlich und wirklich zu feiernden Festes darin bestehen, dass uns die Flucht vor uns selbst und vor den anderen unmöglich und überflüssig gemacht würde. Unmöglich dadurch, dass wir genötigt würden, uns selbst (ob wir uns gefallen oder nicht) und so auch den anderen (auch ihnen, ob sie uns gefallen oder nicht) ins Gesicht zu sehen und standzuhalten. Unweigerlich müssten wir vor die Notwendigkeit gestellt sein, uns mit beiden: mit dem Gesicht im Spiegel und mit den vielen anderen Gesichtern zufrieden zu geben als mit der Gestalt unserer Existenz, neben der es keine andere gibt.
Und überflüssig müsste uns die Flucht dadurch gemacht sein, dass wir uns vor uns selbst und vor dem Nächsten (trotz alles dessen, was nach beiden Seiten mit Recht zu klagen ist) nicht mehr fürchten müssten, sondern unerschrocken und fröhlich als die, die wir sind, mit den anderen, wie sie sind, leben dürften – einfach leben, ohne uns selbst etwas einzubilden, ohne den anderen etwas vorzumachen. Die ganzen hastigen und krampfhaften Bewegungen, mit denen wir uns jetzt zu helfen versuchen, müssten unnötig geworden sein. So könnte es Ruhe geben.
Nun, diese Ruhe können und werden wir uns nicht verschaffen. ... Wir werden bis an unser Lebensende weder mit uns selbst noch mit unserem Nächsten auch nur ‚fertig werden‘, geschweige denn ins Reine kommen. ... Die Ruhe könnte nur als Gnade, als die göttliche Rechtfertigung unseres Lebens zu uns kommen. Eben dies ist das Christfest. Es besteht als Nativitas Domini [Geburt des Herrn] schlechterdings darin, dass die Gnade zu uns kommt, die – ‚Friede auf Erden unter den Menschen des Wohlgefallens‘ [Lukas 2,14] – die Ruhe ist. Was heißt Christfest feiern? Eben dies glauben: ‚Euch – dir (für dich selbst und deinen Nächsten) – ist heute der Heiland geboren!‘ [Lukas 2,11]. Glauben aber würde heißen: eben dies annehmen als geschehene und vollendete Entscheidung über uns. Und nun wird es doch wohl nicht an dem sein, dass wir uns gestehen müssen, dass wir zuguterletzt vor dem Schöpfer des Himmels und der Erde, vor Jesus Christus, und das heißt: vor der Gnade, vor der einzigen möglichen Rechfertigung des Weihnachtsfestes und unseres ganzen Lebens auf der Flucht sind?! Nun, wenn dem so wäre, so brauchte es – man darf das auch dem gefrorensten ‚Christen‘ auf den Kopf zusagen – morgen nicht mehr so zu sein.“
Aus: Karl Barth, Predigten 1935-1953, hrsg. von Hartmut Spieker und Hinrich Stoevesandt, Karl Barth-Gesamtausgabe I. Predigten, Zürich 1996, Zitate S. 406-410
Literatur:
Karl Barth, Weihnacht, München 1934
Karl Barth, Predigten 1935-1953, hrsg. von Hartmut Spieker und Hinrich Stoevesandt, Karl Barth-Gesamtausgabe I. Predigten, Zürich 1996