Predigtmeditation zum 75. Jahrestag der Barmer Theologischen Erklärung am Pfingstsonntag

Von Martin Heimbucher, Hannover


© Andreas Olbrich

''Barmen war ein pfingstliches Ereignis: Fast ohne es zu merken, wurde eine ganze Kirchenversammlung tatsächlich von einem prophetischen Geist erfasst. Die Synodalen bekannten gemeinsam ihren Glauben an den einen lebendigen Herrn der Kirche. Und dabei hörten sie einander jeweils 'in ihrer eigenen Sprache reden': Im Bekenntnis von Barmen erkannten Lutheraner das lutherische Bekenntnis, Reformierte ihr reformiertes, und Unierte das gemeinsam reformatorische Bekenntnis.''

Diese Überlegungen verstehen sich als eine Art „Predigtmeditation“ zum 75. Jahrestag der Barmer Theologischen Erklärung am Pfingstsonntag, dem 31. Mai 2009. Sie verbinden historische Beobachtungen mit systematisch-theologischen Einsichten und berühren einige aktuelle kirchliche und gesellschaftliche Problemstellungen, in denen eine Besinnung auf „Barmen“ auch heute wegweisend und hilfreich sein könnte.

Immer wieder sind meine Überlegungen locker verknüpft mit der Pfingsterzählung in Apostelgeschichte 2. Ich möchte mit alldem ermutigen und dazu helfen, an Pfingsten 2009 mit der Barmer Theologischen Erklärung zu predigen – oder die Erklärung selber (ganz oder teilweise) zur Grundlage einer Predigt zu machen.

1. „Gemeinsam dürfen und müssen wir heute reden“ (aus der Präambel)

Gemeinsam dürfen und müssen wir als Glieder lutherischer, reformierter und unierter Kirchen heute in dieser Sache reden. Gerade weil wir unseren verschiedenen Bekenntnissen treu sein und bleiben wollen, dürfen wir nicht schweigen, da wir glauben, dass uns in einer Zeit gemeinsamer Not und Anfechtung ein gemeinsames Wort in den Mund gelegt ist. Wir befehlen es Gott, was dies für das Verhältnis der Bekenntniskirchen untereinander bedeuten mag.

Die zur Synode in Barmen versammelten Christenmenschen wussten, was sie taten. Nach einer Jahrhunderte währenden Trennung der evangelischen Konfessionen, der Lutheraner, der Reformierten und der Unierten in ihren verschiedenen Spielarten, wagten sie das gemeinsame Bekennen. Mehr noch: Sie waren davon überzeugt, dass sie sich in dieser besonderen Situation zum gemeinsamen Bekennen verbinden mussten, wenn sie ihren jeweiligen Bekenntnissen treu bleiben wollten.

Sie taten dies nicht als Besserwisser oder gar als vermeintlich besser Glaubende. Sie sprachen von „einer Zeit gemeinsamer Not und Anfechtung“, die sie mit ihrer Kirche erlebten - und das war nicht übertrieben: Wie unsicher waren selbst diejenigen, die spürten: Hier geschieht Unrecht! Viele waren hin- und hergerissen: Wem sollte man denn glauben? Konnte man sich dem von den Nazis mit allen Mitteln der Propaganda inszenierten „nationalen Aufbruch“ entziehen? War die Begeisterung über den „Retter“ Adolf Hitler nicht nachvollziehbar, die anscheinend ein ganzes Volk ergriffen hatte? Waren die brutalen Eingriffe von Partei und Staat in das staatliche und auch kirchliche Recht vielleicht nur unschöne Übergangserscheinungen einer an sich guten und hoffnungsvollen Sache? Von den 1933 errichteten Konzentrationslagern waren doch anscheinend „nur“ Kommunisten und Sozialisten bedroht, der Hass der Nazis richtete sich doch vor allem gegen sogenannte „Nichtarier“. Konnte, sollte eine überwiegend national gesinnte evangelische Kirche sich etwa die Sache der Linken und der Juden zu eigen machen?

Nein, die Bekenner von 1934 waren keine Helden, und das wussten sie auch. Sie waren tatsächlich vielfach „angefochten“ und unsicher in dem, was nun zu sagen und zu tun sei. Aber indem sie sich ganz grundlegend darauf besannen, was sie als Kirche zu sagen und zu tun hatten, erfuhren sie etwas von dem, was sie von der Kirche glaubten. Sie erfuhren, dass sie im neuen Hören auf die Heilige Schrift tatsächlich die Stimme dessen vernahmen, der die Kirche als guter Hirte leitet. Sie erfuhren, dass Gottes pfingstlicher Geist an ihnen und durch sie zu wirken begann, als sie in dieser Bedrängnis um Verständigung untereinander rangen und miteinander auf ein einmütiges kirchliches Wort hinarbeiteten.

Barmen war ein pfingstliches Ereignis: Fast ohne es zu merken, wurde eine ganze Kirchenversammlung tatsächlich von einem prophetischen Geist erfasst. Die Synodalen bekannten gemeinsam ihren Glauben an den einen lebendigen Herrn der Kirche. Und dabei hörten sie einander jeweils „in ihrer eigenen Sprache reden“: Im Bekenntnis von Barmen erkannten Lutheraner das lutherische Bekenntnis, Reformierte ihr reformiertes, und Unierte das gemeinsam reformatorische Bekenntnis.

In ihrem eigenen Hören, Beten und Bekennen erkannte die Barmer Synode neu die Stimme Jesu Christi, die „Muttersprache“ der Kirche aus allen Völkern (vgl. Apg 2, 5-7). Und so wurde „Barmen“, die Synode einer angefochtenen, an den Rand gedrängten und unfreiwillig in die gesellschaftliche Opposition getriebenen Kirche, bis heute zu einem ökumenischen Ereignis von großer Ausstrahlungskraft, zu einer Orientierung und Ermutigung für viele bedrängte evangelische Kirchen in allen Erdteilen.

Wie die ersten Christen sich der römischen Kaiserideologie zum Trotz zu Jesus Christus als ihrem einzigen Herrn und Heiland bekannten, so widerstand die Barmer Synode der Versuchung, den umjubelten „Führer“ von Partei und Staat als einen Retter auch der Kirche zu beweihräuchern. So fand sie zurück zu dem Trost und zu der Verheißung des Pfingstevangeliums: „Wer den Namen des Herrn Jesus Christus anrufen wird, der soll gerettet werden“. (Apg. 2,21) Mit diesem Bekenntnis verzichtete die Bekennende Kirche auf gesellschaftliche Anerkennung im Hitlerstaat. Wer es durchhielt, riskierte es, verfemt und entrechtet zu werden; er riskierte seine Arbeitsstelle, seinen Beamtenstatus, sein Gehalt; er riskierte unter Umständen Gefängnis und Martyrium.

An Pfingsten wird die Gemeinde insgesamt Zeugin der Auferweckung Jesu Christi von den Toten, ja sie erfährt diesen Sieg des Lebens durch Gottes Geist an sich selbst: „Diesen Jesus hat Gott auferweckt; dessen sind wir alle Zeugen.“ (Apg. 2, 32) Es ist der zu Gott erhöhte Herr der Kirche, der über ihr seinen Geist ausschüttet und sie so erneuert. Das haben die Synodalen von Barmen zu ihrer eigenen Überraschung und Freude erfahren. Wie Teilnehmer der Synode berichteten, erhoben sich nach der Verlesung der sechs Thesen die Synodalen spontan von ihren Sitzen und stimmten die dritte Strophe des Chorals an: „Nun danket alle Gott“.

2. Das eine Wort Gottes und die Bestimmung der Kirche (Die sechs Thesen)

2.1 Christusbekenntnis und Erstes Gebot (These 1)

Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.

Diese erste These öffnet den Raum, in dem sich eine angefochtene Kirche, ein angefochtener Glaube und ein verunsichertes Handeln bergen können. Und dieser Raum ist nicht zuerst etwa ein Gebäude, nein: „Gottes Wort braucht keine Dome“ (Peter Beier) - auch wenn es solche prächtigen Bauwerke unter Umständen dankbar nutzt. Der Schutzraum der Kirche ist ebenso wenig ein System aus dogmatischen Sätzen – auch wenn solche Sätze uns helfen, den Glauben zu verstehen. Der Schutzraum, in welchem die Kirche lebt und webt ist einzig zu finden in einem Namen: „Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“ (Hebr. 13,8)

Was sollen wir denn tun? so fragten sich die Vertreter der evangelischen Kirche angesichts der Bedrängnis und der Verwirrung, in die die Kirche im Hitlerstaat geraten war. Und die Barmer Theologische Erklärung antwortete mit drei Tu-Wörtern, mit drei Verben, die miteinander eigentlich alle ein einziges Wort umschreiben: „Hören – vertrauen – gehorchen“, sagt These 1, und in diese drei Tätigkeiten fächert sich das eine Wort auf, das die Reformation als das Herzstück des christlichen Lebens wiederentdeckt hat, nämlich: „glauben“. In großer Einseitigkeit antwortet „Barmen“ also auf die Not und die Ratlosigkeit der evangelischen Kirche: Das allein habt ihr zu tun, eines ist not, nämlich Christus hören, Christus vertrauen und Christus gehorchen – mit einem Wort: glauben.

Was sich am Schreibtisch oder an einer Kaffetafel heute vielleicht unbestimmt und nicht besonders aufregend anhört, entfaltete im Mai 1934 eine Brisanz, die jeder sofort spüren konnte – ob er nun ein Freund oder ein Gegner der Bekennenden Kirche war. Allein Christus hören – und sich also nicht mitreißen lassen von der in Wort, Bild und Ton allgegenwärtigen Propaganda eines Josef Goebbels! Allein Christus vertrauen – und also nicht auf die scheinbaren Sicherheiten, die ein starker Mann, ein „wehrhaftes Volk“, wie es damals tönte, anboten, oder eine allzuständige Partei und ein totaler Staat! Allein Christus gehorchen – und also nicht einem „Führer“, der von Soldaten und Beamten und auch von Kirchenleuten unbedingte Gefolgschaft forderte und sich diese bald auch durch einen verhängnisvollen Eid bestätigen lassen würde!

2.2 Zuspruch und Einspruch (These 2)

Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.

Eine „frohe Befreiung“ durch Gottes Wort sagt diese These an. Zum einen heißt das ganz klassisch reformatorisch: Das Evangelium von Jesus Christus schenkt uns Sündern Vergebung. Es bringt Menschen, die sich immer wieder von Gott abgeschnitten fühlen, die aber auch immer wieder selber sich von Gott abwenden und sich anderen faszinierenden oder erschreckenden Erscheinungen zuwenden, in eine neue Verbindung mit Gott. Das ist die große Zusage des Evangeliums von Jesus Christus: Dass der Mensch nicht allein ist, weil Gott sich ihm zuwendet und ihn liebt. Dieser Zuspruch befreit Menschen von ihrer Schuld, von ihren Verstrickungen und von ihrer Angst.

Es ist dies aber keine Befreiung ins Leere oder Unbestimmte. Es ist als Befreiung von etwas zugleich auch Befreiung zu etwas, nämlich, wie diese These sagt: „zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen“. Wer Gottes Zuwendung und Erbarmen an sich erfahren hat, der kann gar nicht anders, als solche Barmherzigkeit und Liebe auch an andere weiterzugeben. Aber eben: Er tut dies in der wunderbaren Freiheit derer, die an sich selber Gnade und Liebe erfahren haben - und nicht aus der Angst, etwas zu versäumen, und schon gar nicht aus der Sorge, sich mit solchem Dienst bei Gott etwas verdienen oder sich selber etwas bestätigen zu müssen.

Gottes unbedingte Solidarität mit dem Sünder, seine unerwartet liebevolle Zuwendung zu dem Menschen, der sich fahrlässig oder mutwillig von Gott abgewendet hat (wie es z. B. das Gleichnis vom „verlorenen Sohn“ illustriert), ist nicht zu verwechseln mit einer Solidarität Gottes etwa mit der Sünde selbst. Im Gegenteil: Gottes Ja zu uns Menschen fordert zugleich sein Nein gegen unsere Sünde. Die Ehebrecherin, deren Steinigung Jesus verhindert, bekommt am Schluss der Geschichte auch zu hören: „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“

Auch die Pfingstpredigt des Petrus konfrontiert die Gemeinde mit ihrer Schuld: „Ihr habt diesen Jesus von Nazareth durch die Hand der Heiden ans Kreuz geschlagen und umgebracht.“ (Apg. 2,23) Besonders in Deutschland können wir diesen Satz nicht hören, ohne daran zu erinnern, dass unsere Kirche es weithin widerspruchslos hingenommen hat, dass 1933 und später ihre jüdischen Nachbarn „durch die Hand der Heiden“ entrechtet, verfolgt und ermordet wurden.

Dass Gottes Wort Zuspruch ist und „so und mit gleichem Ernst“ auch einen Anspruch auf unser ganzes Leben erhebt, das verhindert das Missverständnis eines allzu lieblichen, nach überzuckertem Himbeersaft schmeckenden Evangeliums. Die Sünde, die unser Leben bedroht, ist ja nicht jene Lust auf ein Stück Torte, die wir uns mit einem Augenzwinkern gern zugestehen. Die Sünde, die Abkehr von Gott, bedroht unser Leben und Zusammenleben. Und darum ist im Namen des Evangeliums nicht einfach alles zu „vergeben und zu vergessen“ und der schwarze Fleck mit weißer 5

Farbe zu übertünchen. Sondern das Evangelium fordert immer auch die Kritik, das genaue Hinsehen und Unterscheiden, das kräftige Ja wie auch das entschiedene Nein, die tröstliche Zusage wie auch den couragierten Einspruch, das Bekennen wie auch das Verwerfen.

Schließlich verhindert diese These, dass wir unser Leben einteilen in unterschiedliche Bereiche, und etwa sagen: Im privaten, im stillen Kämmerlein will ich ein guter Christ sein, aber in der Öffentlichkeit soll bitte möglichst niemand etwas davon merken. Oder umgekehrt: Im Beruf, da präsentiere ich mich als freundlicher, aufmerksamer, sympathischer Zeitgenosse, aber zu Hause, in der Partnerschaft oder in der Familie, da kann ich es mir dann leisten, launisch und miesepetrig zu sein oder gar ein unduldsamer Tyrann. „Zuspruch und Anspruch auf unser ganzes Leben“ – wie befreiend ist das! Und wie „anspruchsvoll“. Geringer aber sollten Christenmenschen von ihrem Leben nicht denken.

2.3 Christusgegenwart und „Brüderlichkeit“ (These 3)

Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.

Die Kirche ist eine Gemeinde, sie ist per Definition die Angelegenheit einer Gemeinschaft, die vom Gemeinsamen herkommt, das Gemeinsame sucht und sich bemüht, dies in möglichst großer Gemeinsamkeit zu tun. Am Pfingsttag, in der Geburtsstunde der Kirche, werden „alle“, die zusammengekommen sind, vom Heiligen Geist ergriffen, und „alle“ verkündigen die großen Taten Gottes. So hatte es einst schon der Prophet Joel gesehen und gesagt: Söhne und Töchter, Jünglinge und Alte, Knechte und Mägde werden im Geist und im Namen Gottes weissagen.

Wie schade, dass Barmen da in einem Punkt ohne Not hinter das biblische Zeugnis zurückgefallen ist, und nach verbreiteter kirchlicher Unsitte nur die „Brüder“ und nicht „so und mit gleichem Ernst“ selbstverständlich auch die „Schwestern“ genannt hat. Das würde uns heute wohl nicht mehr passieren – der Frauenbewegung auch in der Kirche sei Dank!

Die christliche Kirche ist „die Gemeinde von Schwestern und Brüdern“. Sie ist ein Familienunternehmen im prägnanten und ungewöhnlichen Sinne: “Chef“ ist Christus allein – und alle anderen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind ihm untergeordnet und untereinander prinzipiell gleichgeordnet. Die Gemeinde ist also kein Laden, den die Pfarrer als patriarchale oder die Pfarrerinnen als matriarchale Filialleiter zu führen hätten. Auch Petrus, der Pfingstprediger, tritt bei seiner Predigt auffälliger Weise ja nicht als Solist auf, sondern zusammen „mit den Elf“, den anderen Jüngern (Apg. 2,14). Wenn er das Wort nimmt, tut er dies im Namen und Auftrag der Gemeinde. 6

Wie groß und präzise denkt und spricht Barmen III von der Bestimmung dieser „Geschwisterschaft“ Kirche! In ihr geschieht nichts Geringeres als dass Jesus Christus durch diese Gemeinde von Schwestern und Brüdern „gegenwärtig handelt“. Die Kirche ist also kein Verein der Traditionspflege, sondern das Forum, in dem Gottes Gegenwart aktuell hörbar, sichtbar und spürbar wird. Und darum wird sie auch ein Bekenntnis wie „Barmen“ nicht behandeln „wie eine alte Fahne, die gelegentlich an Feiertagen entrollt wird und sonst in einem Museum steht“ (Eberhard Busch). Sondern sie wird mit dem Bekenntnis leben, mit ihm denken und mit ihm handeln.

Aktuell gibt diese dritte Barmer These unserer Kirche unter anderem Folgendes zu bedenken: Das „Wachstum der Gemeinde“, das wir in diesen Zeiten gegen den Trend kühn anpeilen, wird zuerst ein Wachstum an Liebe untereinander und ein Wachstum zu Jesus Christus hin sein, und dann und nur so wird es sich – so Gott will – auch in wachsenden Zahlen niederschlagen. Darum werden wir die Organisation der Kirche auch nur dann „optimieren“ können, wenn wir sie zuerst daraufhin befragen: Ob sie der Verkündigung des Evangeliums „an alles Volk“ dient, oder ob sie diese hindert. Wir werden die Strukturen der Kirche auch nur dann sinnvoll reformieren, wenn wir sie vom Evangelium her neu auf die Grundaufgabe der Kirche hin ordnen. Damals haben die Synodalen von Barmen gesehen: Eine nach dem „Führerprinzip“ von oben nach unten abgerichtete Kirche wird alles Mögliche verkünden, aber nicht das Evangelium von Jesus Christus.

2.4 Das kirchliche Amt dient (These 4)

Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.

Das ist ebenfalls eine These, die unserer evangelischen Kirche heute wieder ins Stammbuch zu schreiben ist. Vorbei sind die Zeiten, als Machtstrukturen in der Kirche vernebelt wurden und zuweilen heuchlerisch verbrämt durch die Behauptung, alles geschehe ja nur „im Dienen“. Vorbei sind auch die Zeiten, wo in der Kirche einer den anderen mit dem Hinweis beschämen konnte, bestimmte und besondere Christenmenschen seien ja sowieso „immer im Dienst“.

Weiterhin aber hat die evangelische Kirche ein Problem im Umgang mit unterschiedlichen Zuständigkeiten, die oft allzu schnell als ein hierarchisches Gefüge missverstanden werden. Hier kann diese vierte Barmer These helfen, falsche Erwartungen, Ansprüche und Ängste zurechtzurücken. Alle Ebenen, Ämter und Zuständigkeiten werden gleichermaßen dem der ganzen Gemeinde aufgegebenen Dienst zugeordnet. Petrus, der Prediger und Sprecher der Gemeinde, verweist in seiner Pfingstpredigt darauf, dass es die ganze Gemeinde ist, mit allen ihren Gliedern, die das Evangelium bezeugt: „Dieses Jesus hat Gott auferweckt; dessen sind wir alle Zeugen.“ (Apg. 2,32) Das ist und bleibt der Prüfstein für alle von der Kirche mit bestimmten Aufgaben betrauten Menschen und ihr Tun und Lassen: Entspricht und dient meine 7

Tätigkeit dem Christuszeugnis der Kirche? Oder bedient meine Amtsführung unter der Hand vor allem die Erwartungen der Leute oder vor allem – meine Eitelkeit?

Kritisch zu befragen wäre von dort aus (so Friedrich Weber vor der Braunschweigischen Landessynode) die „gegenwärtige Konzentration auf das Erkennbarwerden von Kirche in einzelnen Personen (Kirchenleitungen, Bischöfe etc.)“, wenn sie die in der These angelegte Kritik an einer Hierarchie in der Kirche übergeht. Entsprechend sind bestimmte Stile und Kulturen zu entwickeln, mit denen auch Leitungsfunktionen in der Kirche angemessen ausgeübt werden.

2.5 Politische Verantwortung (These 5)

Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.

Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.

Wie spröde und nüchtern klingen diese Zuschreibungen, in denen dennoch alles Nötige gesagt ist! Schon allein dies war 1934 ein Skandal, in einer Zeit, in der die Staatsmacht nicht nur brutal diktatorisch agierte, sondern zugleich alle Verführungskünste der Massenpsychologie einsetzte und dies auch mit der Anmaßung religiöser Rhetorik und Symbolik um den vermeintlichen „Messias“ Hitler zu überhöhen versuchte. Dass demgegenüber der Staat nach Barmen unter einer „Anordnung“ Gottes steht und dass er schlicht und einfach nicht mehr und nicht weniger zu tun hat, als für Recht und Frieden zu sorgen, das wurde damals geradezu als Beleidigung empfunden. Ach, hätte solche Nüchternheit seinerzeit doch dem politischen Urteil auch bekennender Christen geholfen, den Hitlerstaat zu durchschauen als ein System, das alles andere tat, aber dies am wenigsten, nämlich: „für Recht und Frieden zu sorgen“!

Mit ihrer Nüchternheit sind von der fünften Barmer These her auch heute alle Versuche zu durchschauen, Politik als eine große Show zu inszenieren. Nein, hier lässt keine „Airforce One“ unter großem Getöse den Präsidenten einfliegen. Hier bringt, wenn denn ein Fluggerät nottut, eher ein Hubschrauber eine Kanzlerin zum Ort ihres Einsatzes. Das genügt. (Mit diesem Beispiel ist nichts über die Politik von Barack Obama gesagt und ebenso wenig über die Politik von Angela Merkel. Es soll jedoch darauf aufmerksam machen, dass allzu viele auch in unserer Kirche fasziniert sind von einem „großen Auftritt“. Wo aber der Geist Gottes weht, müssen wir selber nicht mehr so viel Wind machen.)

Auch die Kirche erhält nach Barmen V in politischer Hinsicht eine eher bescheiden klingende Aufgabe. Sie achtet den Staat. Sie tritt entschieden für die Demokratie ein, in der die gemeinsame Verantwortung von Regierenden und Regierten am besten zum Ausdruck kommt. Sie verteidigt jene, die politische Ämter übernehmen, gegen alles von Vorurteilen getriebene und Ressentiments anheizende Herabwürdigen und Schlechtreden.

Und sie erinnert an Gottes Reich. Sie erinnert daran, dass auch dann, wenn die Politik ihr Bestes getan hat, immer noch etwas aussteht. Sie riskiert es, deswegen als „Träumerin“ verlacht oder gar eines übermäßigen Weingenusses (vgl. Apg. 2, 13) geziehen zu werden. Die Kirche wehrt falschen überhöhten Erwartungen an politische Möglichkeiten. Aber sie gibt sich auch nicht zufrieden mit dem menschlich Erreichbaren. Sie erwartet Gottes Reich der Freiheit und das Reich des großen „Schalom“ für alle seine Geschöpfe. Und darum ermutigt sie alle Menschen, sich einzusetzen für Frieden und Gerechtigkeit, im Großen wie im Kleinen.

2.6 Eine Botschaft für alle (These 6)

Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.

Noch einmal wird abschließend und als Krönung der Auftrag der Kirche als die Grundlage ihrer einzigartigen Freiheit benannt. So wie Martin Luther einmal alle Christenmenschen als „freie Herrn über alle Dinge“ und zugleich als „dienstbare Knechte gegenüber jedermann“ bezeichnet hat, so bindet die Barmer Theologische Erklärung Freiheit und Dienst der Kirche untrennbar aneinander. Dass wir jene einzigartige „Botschaft von der freien Gnade Gottes“ allen Menschen weitersagen können, das ist die Freiheit, die uns als Kirche geschenkt ist. Und das ist unsere Aufgabe.

Dabei fordert uns heute fast noch stärker als 1934 jene altertümlich klingende Formulierung heraus: „an alles Volk“. Das Evangelium soll von der Kirche so verkündigt werden, dass alle Menschen, gleich welchen Standes und gleich welcher Bildung, es hören, erfahren und sich an ihm freuen können. Beschämt müssen wir feststellen, dass die Kirche in unseren Breiten mit ihrer Sprache und ihrer Kultur noch immer vor allem bestimmte „bürgerliche“ Milieus anspricht und andere ausblendet. Die größte Chance, den Weg zu anderen als den traditionell kirchlich geprägten Milieus zu ebnen, hat die Gemeinde vor Ort - vor allem durch persönlichen Kontakt. In einer Zeit, in der die Schere zwischen „Arm“ und „Reich“ weltweit, aber leider auch in unserem wohlhabenden Land, dramatisch auseinandergeht, muss die Gemeinde Jesu Christi sich fragen, welchen Platz die „Armen“ in ihrem Leben und Reden haben. Dabei kommt es darauf an, dass die Gemeinde nicht nur Kirche für die Armen wird, sondern vor allem Kirche mit den Armen (so Margot Käßmann auf dem Bremer Kirchentag) – eine Gemeinde, in der gerade die wenig Begüterten selbstverständlich „Sitz und Stimme“ haben.

3. Bußfertiges Bekennen (Schluss)

Die Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche ... bittet alle, die es angeht, in die Einheit des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung zurückzukehren.

Noch einmal widerspricht diese Formulierung am Schluss der Erklärung jedem fundamentalistischem Missverständnis eines Bekenntnisses und vor allem seiner Verwerfungen. Indem diese Verwerfungen sich gegen eine falsche Lehre wenden (und eben nicht jene „verdammen“, die sie vertreten), trennen sie die „Deutschen Christen“ von ihrer falschen Lehre. Damit separieren sich nicht „Rechtgläubige“ von den Vertretern der falschen Lehre, sondern allesamt werden mit Ernst darauf hingewiesen, dass man sich mit solcher Lehre selbst aus der Kirche ausschließt. So wird auch den Vertretern der falschen Lehre die Rückkehr in die Kirche Christi ermöglicht.

Rechtes Bekennen zeigt niemals mit dem anklagenden Finger auf andere, sondern versteht sich immer zuerst als ein Akt der Buße. „Nur Bußfertige werden recht bekennen, wie recht Bekennende nur bußfertig reden können – und gerade so werden sie mutig und aufrecht reden dürfen.“ (Eberhard Busch) Darum kann es auch bei der Besinnung auf „Barmen“ nicht um eine nostalgische Verklärung des Ereignisses von Barmen gehen. Aus ihren Versäumnissen zu lernen hatten später gerade auch die Bekenner selbst – und nicht nur die „Deutschen Christen“ oder jene, die ihnen theologisch und kirchenpolitisch damals die Steigbügel hielten. Barmen ist eine Aufforderung zur Umkehr an „alle, die es angeht“, auch heute. Die Theologische Erklärung bleibt ein evangelischer Ruf „in die Einheit des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung“ und als solcher ein Aufruf zur Ökumene.

Weiterführende Literatur:

Eberhard Busch, Die Barmer Thesen. 1934-2004, Göttingen 2004
Martin Heimbucher/Rudolf Weth, Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, mit einem Geleitwort von Wolfgang Huber, Neukirchen 2009