Ein NEIN ohne jedes JA

Die Reformierte Friedenserklärung im Jahr 1982

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Auslöser ist die sogenannten Nachrüstungsdebatte: Die Pläne von Waffenstationierungen in Westdeutschland stoßen auf Proteste. Der Reformierte Bund bekennt sich zum Frieden.

I

Der Streit bricht aus im Jahr 1982. Auslöser ist die sog. „Nachrüstungsdebatte“. In ihr geht es um die Pläne, neue atomare Mittelstreckenraketen in Deutschland-West zu stationieren. Gemeint sind die amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing und Cruise Misseles, die als „Gegenwehr“ zu den russischen SS 20 Raketen aufgestellt werden sollen. 

Im Sommer `82 kommt dann eine Denkschrift in die Öffentlichkeit, die das reformierte „Moderamen“ - d.h. die Leitung des Reformierten Bundes - verfasst hat. Sie trägt den Titel „Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche“. Dass das Moderamen darin die Friedensfrage zu einer „Bekenntnisfrage“ macht, löst leidenschaftliche Diskussion aus. Und der Leitsatz dieser Erklärung lautet: Wir sagen „Ein Nein ohne jedes Ja zu den atomaren Waffen“. Diese Formulierung wird zur Losung der kirchlichen Friedensbewegung in beiden Teilen unseres Landes. 1983 bestimmt das „Nein ohne jedes Ja“ den Kirchentag in Hannover. Sie ist auf einem Meer der tausend lilafarbenen Halstücher zu lesen – verbunden mit einer Karikatur, auf der eine A-Bombe aus der Kirche getreten wird. Die Reformierte Friedensdenkschrift wird in der Friedensbewegung beachtet. Sie findet nachdrückliche Zustimmung, aber eben auch allerschärfste Kritik.

II

Die beiden wichtigsten Abschnitte der Erklärung stehen in der These I und V (von sieben Thesen), wo es heißt: 

«Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist der ‚status confessionis gegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernichtungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.» (These 1) ‘ 

Und:

„Im Glaubensgehorsam gegen Jesus Christus sagen wir: Auch für staatliche Machtmittel gibt es eine durch das Gebot des Herrn gesetzte Grenze, die nicht überschritten werden darf. Massenvernichtungsmittel sind keine angemessenen und notwendigen Machtmittel, mit denen ein Staat potentielle militärische Gegner abschrecken und im Kriegsfall bekämpfen darf. Es ist zwar Aufgabe des Staates, für Recht und Frieden zu sorgen und das Leben seiner Bürger zu schützen. Aber Massenvernichtungsmittel zerstören, was sie zu verteidigen vorgeben. Ihnen gilt vonseiten der Christen ein aus dem Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer, Versöhner und Erlöser gesprochenes bedingungsloses ‚Nein!‘, ein ‘Nein ohne jedes Ja‘" (These 5). 

Der „status confessionis“ ist der Härtefall. „Status confessionis“ ist ein theologischer Begriff, der den äußersten Bekenntnisnotand anzeigt und durch den die kirchliche Gemeinschaft bedroht wird. Dadurch kommt eine ultimative Herausforderung zur Sprache. Hier wird 1982 die Einheit aus Lutheranern, Unierten und Reformierten in der EKD infrage gestellt. Und dadurch sehen sich nicht nur Theologen und Theologinnen aufs Ärgste herausgefordert. 

Der führende Lutheraner, der damalige Ratsvorsitzende der EKD, der hannoversche Bischof Prof. Dr. Eduard Lohse, schreibt in seinen Memoiren über das Handgemenge, wie es sich etwa ereignet in der „Kirchenkonferenz“ als der Versammlung aller Kirchenleiter (Bischöfe, Präsides, Kirchenpräsidenten, Landessuperintendenten und Juristen) am 16. September 1982 in der EKD-Kanzlei zu Hannnover: 

«In der gesamten Zeit meiner Zughörigkeit zu den Organen der EKD habe ich keine andere Beratung der Kirchenkonferenz erlebt, in der mit solcher Schärfe der Kritik diskutiert wurde.» 

In der Kirchenkonferenz sind es besonders die Landessuperintendenten Ako Haarbeck (Lippische Kirche) und Gerhard Nordholt (Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland), die sich charakterfest auf die Seite ihrer Friedenserklärung stellten. Der Moderator Hans-Joachim Kraus (Uni Göttingen) geht in die Gemeinden und schreibt unterschiedliche Stellungnahmen in der kirchlichen und weltlichen Presse. Auch die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung öffnete ihm die Seiten.

III

In Sommer vor vierzig Jahren gibt dann die Vereinigte Evangelisch Lutherische Kirche (VELKD) bekannt: «Wir können dem Aufruf des reformierten Moderamens nicht zustimmen, politische Entscheidungen – selbst solche auf Leben und Tod – zu Bekenntnisfragen der Kirche zu erklären. Die Kirche steht und fällt mit ihrem Bekenntnis zu Jesus Christus [...]. Allein im Glauben an ihn entscheiden sich Heil oder Unheil der Menschen.“ Und der Rat der EKD sagte: «Das Bekenntnis zu Jesus Christus wird missbraucht, wenn es zur Entscheidung über offene politische Wege verwendet wird.» 

Viele Christen – besonders die Jungen Gemeinden - reagieren fassungslos auf derartige Sätze angesichts einer Situation, in der sie sich so sehr durch die „Nachrüstung“ bedroht sehen. Bischof Lohse jedoch sieht sich in anderer Hinsicht bedroht: 

«Eine Flut von Briefen mit Äußerungen unterschiedlichster Art gingen bei mir ein, am Telefon wurden Beschimpfungen laut, und es kam sogar zu persönlichen Drohungen. Demgegenüber ruhige Geduld zu bewahren, war nicht immer ganz einfach.“ 

Der Konflikt jedoch verbreitet sich auch an der Basis: Mit erheblicher Öffentlichkeitswirkung tritt die große Reformierte Gemeinde Bielefeld aus dem Reformierten Bund aus. Nicht wenige Einzelmitglieder verabschieden sich. Andere Gemeinden verweigern ihre Mitgliedsbeiträge oder ignorieren das Moderamen. Die theologische Speerspitze gegen die Friedenserklärung bildet der aus dem Wittgensteiner Land kommende Berliner Neutestamentler Walter Schmithals. Er zeigt in der Konseqenz seiner bultmannschen Theologie auf, wie wenig nach seinem Verständnis man vom Neuen Testament aus zu einem „Nein ohne Ja“ oder zum „status confessionis“ in einer politischen Frage kommen könne. Schmithals und seine Anhänger formulieren eine rigorose Zwei-Reiche-Lehre, wie sie sonst allenfalls im konservativen en Luthertum zu hören ist.

Die Darstellung der Kritik mag den Eindruck erwecken, dass das Moderamen eine Minderheitsposition zu Papier bringt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Zahl der zustimmenden Gemeinden und ihrer „Einzelmitglieder“ wächst. Und der status confessionis in der Nuklearwaffen-Frage findet auch weit über den konfessionellen Rahmen hinaus Gehör und wurde von Vielen mit einem „endlich!“ quittiert. 

IV

Aus dem vierzigjährigen Abstand heraus ist schwer zu verstehen, wie derartig aufgebracht und zugespitzt in der Kirche gestritten wird. Man muss sich dazu vergegenwärtigen, wie aufgeheizt die politische Diskussion in West und Ost um die Raketenrüstung insgesamt ist. Sie ist schon längst in eine ideologische, grauenvolle  Auseinandersetzung abgeglitten. Der Präsident der USA, Ronald Reagan, bezeichnet Moskau als das «Zentrum des Bösen» und meint, wir würden die große apokalyptische „Schlacht bei Harmagedon“, in der das Reich des Bösen vernichtet wird, noch erleben. Unzählige stehen in der Furcht, dass der sog. Ost-West-Konflikt aus der Zone der politischen Machtauseinandersetzung heraustreten und zu einem militärischen Konflikt eskalieren würde, in dem der Einsatz von atomaren Waffen auch auf deutschem Boden nicht nur denkbar, sondern auch wahrscheinlich und realisierbar würde. 

Heute lässt sich wissen: Es wird alles in Ost und West mit den neuen Raketen auch genauso geplant und kalkuliert, wie die Friedensbewegung und in ihr das Moderamen befürchten und analysieren. Erst mit dem unvorhergesehen Michail Sergejewitsch Gorbatschow (1985) können nach und nach die Bedrohungen des Kalten Krieges vom Feuer genommen werden. -

Nun enthält jedoch die Moderamenserklärung eine theologische Mangelhaftigkeit, die uns dieser Tage im grellen Licht erscheint. Sie findet sich in den Erläuterungen zur These I. Dort heißt es: 

„Wie im Kirchenkampf die ‚Judenfrage‘ zu Bekenntnisfrage wurde, so stellt uns heute das Gebot des Bekennens in der Frage des Friedens und seiner Bedrohung durch die atomaren Massenvernichtungsmittel in den status confessionis …“ 

Ich halte inzwischen unsere damalige Parallelisierung von «Holocaust» und Atomwaffenbedrohung für schlimm und prekär – d.h. wir wissen nicht, wie wir aus dieser Positionierung herauskommen können. Sie wirft einen Schatten auf die Erklärung. Die Judenvernichtung in der Nazizeit ist ein einzigartiges Verbrechen, das nicht als „Beispiel“ in der Atomwaffenfrage instrumentalisiert werden durfte und darf. Wir hätten das so nicht parallelisieren dürfen. Schlecht.

Das «Bekennen in der Friedensfrage» aber wurde nun damals nicht im Westen Deutschlands angegangen, sondern im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Die Protestanten im Westen, die das «Nein ohne jedes Ja» als Bestandteil ihres Glaubensbekenntnisses in Kopf und Herz trugen, schauten erstaunt – und wohl auch neidisch – in die DDR. Dort machten die Gemeinden, Synoden und Kirchenleitungen die Grabenkämpfe und das Gezänk um die rechte Auslegung eines «status confessionis» nicht mit. Sie sprachen vielmehr aus, was beispielgebend die Bundessynode zu Görlitz 1987 wahrnahm und was einfach dran war: 

«Wir bekennen: Gott befreit uns durch Jesus Christus aus der Knechtschaft der Angst, die eine Folge der Sünde ist. Er befreit von Abhängigkeit und Unterdrückung. Daraus folgt: kein Mensch und kein Staat darf durch Drohung mit Massenvernichtungsmitteln Angst und Abhängigkeitsverhältnisse schaffen, um sich so seinen Frieden zu erkaufen und Macht auszuüben.»  

Heute ist die Kirche der Bundessynode zu Görlitz ’87 Teil der EKD. Und die EKD insgesamt steht in der Verpflichtung dieses Beschlusses.

Im Jahr 1983 spricht die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver es aus:

„Wir glauben, dass für die Kirchen die Zeit gekommen ist, klar und eindeutig zu erklären, dass sowohl die Herstellung und Stationierung als auch der Einsatz von Atomwaffen ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellen.“

Und Papst Franziskus sagt am 24. November 2019 am Friedensdenkmal in Hiroshima: „Unsere Welt lebt in der abartigen Dichotomie, Stabilität und Frieden auf der Basis einer falschen, von einer Logik des Misstrauens gestützten ‚Sicherheit‘ zu verteidigen und sichern zu wollen. Aus tiefer Überzeugung möchte ich bekräftigen, dass der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken heute mehr denn je ein Verbrechen ist, nicht nur gegen den Menschen und seine Würde, sondern auch gegen jede Zukunftsmöglichkeit in unserem gemeinsamen Haus. Der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken ist in jeder Hinsicht unmoralisch, wie ebenso der Besitz von Atomwaffen in jeder Hinsicht unmoralisch ist. Wir werden darüber von Gott gerichtet werden.“ 

Aber was bedeutet das JA OHNE NEIN im Angesicht des Ukraine-Kriegs?


Rolf Wischnath war Mitglied des Reformierten Moderamens von 1978 bis 1994.