Predigt im Rahmen der Reihe "Liebe" im "Einfachen Gottedienst" der Melanchthon Akademie Köln 2013
Liebe Gemeinde,
immer wieder sind sie da alle unterwegs in der Bibel. Seitdem die begrenzten Spaziergänge im milden Abendlicht des Paradieses vorüber sind, also diesseits von Eden, finden wir Adams Nachkommen und Evas Kinder meistens auf der Straße, von wenigen Ruhephasen einmal abgesehen. Das wandernde Gottesvolk. „Ein umherirrender Aramäer war mein Vater“ (Dt 26, 5), das ist das uralte Bekenntnis Israels. Und der Wanderrabbi Jesus beneidet sogar die Füchse, die wenigstens eine Grube haben, „...aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege “ (Mt 8, 20).
Vielleicht haben wir sitzfesten und sesshaften Einwohnerinnen und Einwohner unserer Städte auch darum manchmal solche Schwierigkeiten mit biblischen Texten. Sie sind ja weitgehend Texte von unterwegs, für Menschen auf der Straße, la-strada-Texte, die man im Sitzen „auf seinen vier Buchstaben“ und im Bestehen auf seinen Prinzipien kaum erfassen kann, so wie man beim Meditieren kaum in der Verfassung ist, rhythmische Marsch- und Wanderlieder zu singen. Biblische Texte sind überwiegend Wanderführer, Wegweiser und Lieder für unterwegs. Wer sie hört oder liest oder singt und wer dabei immer nur sitzen bleiben und sich auch im Kopf und im Herzen gar nicht bewegen lassen will, der wird ihrer bald überdrüssig werden.
Paulus dagegen ist einer von diesen Straßenmenschen, ständig unterwegs auf den Landstraßen, wie auf den Wasserstraßen und im Grunde im ganzen Mittelmeerraum zu Hause.
Und
als jüdischer Gelehrter und als römischer Staatsbürger,
als geborener Orientale und prägender Geist des Abendlandes,
als treuer Schüler Moses’ und konsequenter Nachfolger Christi,
als einer, der hat, als hätte er nicht,
und als Heidenapostel und Kirchenlehrer
bewegt er sich zwischen allen Fronten: Ein ständiger Grenzgänger und Türöffner, wirklich ein Langstreckenläufer und passionierter Reisender mit einer Mission. Paulus ist unterwegs zwischen allen Kulturen, Traditionen und Fraktionen, er ist auf der Straße zu Hause und lebt unterwegs; ein klassischer Gehe-viel und Habe-nichts. –
Da war nun – wie wir es eben gehört haben – ein ganzes Kapitel lang von den guten Gaben die Rede, die man alle in der christlichen Gemeinde finden und haben kann: Geistesgaben, Heilungskräfte, Sprachvermögen, politische Begabungen, Organisationskönnen, praktische Stärken und meditative Fähigkeiten. Paulus streicht sie alle heraus und freut sich über die Vielfalt der Gaben und den charismatischen Reichtum der Gemeinden.
Aber nun springt er mit unserem Text hinüber, wechselt sozusagen die Gangart und verlässt das Depot geistlicher Gaben und dosierbarer Kräfte. Nun ist er doch schon wieder unterwegs, schon wieder auf der Straße:
„Ihr eifert nach den grössten Gaben?
Dann will ich euch einen Weg zeigen,
der weit besser ist.“
Diesen Wechsel in der paulinischen Gangart, wenn er auf die Liebe zu sprechen kommt, müssen wir uns immer klar machen, wenn wir das Hohe Lied der Liebe, das 13. Kapitel im 1. Korintherbrief, mit der Predigtreihe dieses neuen Jahres im Einzelnen betrachten.
Jetzt ist er nämlich wieder unterwegs, auf der Straße, sozusagen biblisch bewandert. Darum jetzt:
Statt Gaben – nun WEG;
statt Haben – nun Bewegen;
statt Bilanzen – nun Projekte!
Und das schließt die Gelähmten und die Gehbehinderten in der Gemeinde natürlich nicht aus. Bewegliche Geister und bewegte Herzen haben auch bei gelähmten Gelenken und geschwächten Muskeln schon manches Feuer entfacht und vielfache Stürme ausgelöst. Denn man kann auch im Glauben und in der Liebe und in der Hoffnung bestens unterwegs sein, selbst wenn die Füße und die Hände nicht mehr mitgehen wollen.
Heilen können, Reden halten, Verwaltung organisieren, auch beten und glauben können, das alles sind unverzichtbare und nützliche Gaben. Man kann sie entdecken und haben und pflegen und sich ihrer freuen. Man kann mit ihnen etwas erreichen. – Aber die Liebe, von der nun zu reden sein wird, ist keine Gabe, sondern ein WEG, und zwar ein neuer, ein unbekannter, ein WEG, dessen Aufs und Abs und Kurven und Kehren man vorher nicht kennen und unterwegs nicht übersehen kann, dessen Ende prinzipiell nicht absehbar ist. Diesen WEG kann man nicht wirklich planen und berechnen; man kann ihn nur ausprobieren, abschreiten und praktisch erfahren. Wir sprechen ja nicht umsonst vom Abenteuer der Liebe.
Auf Englisch lässt sich das fast leichter so sagen: Die Liebe ist ein „work in progress“, eine „open end activity“. Und in der Sprache der deutschen Romantik heißt es so:
„Und keiner kennt den letzten Akt von allen, die da spielen. Nur der da droben schlägt den Takt, weiß, wo das hin will zielen, weiß, wo das hin will zielen.“[1]
Auf so einen offenen und prinzipiell unabgeschlossenen WEG will Paulus uns nun locken, wenn er das Hohe Lied der Liebe anstimmt.
Das klingt nach Arbeit, vielleicht sogar nach Anstrengung. Haben wir Protestantinnen und Protestanten dafür überhaupt noch ein Ohr, nachdem wir 500 Jahre lang so unisono gegen jede fromme Werkgerechtigkeit wiederholt haben: „Allein der Glaube, allein die Gnade, allein die Schrift!“ ? Und jetzt kommt uns hier der Paulus mit einer solchen – scheinbar unprotestantischen – Geländebeschreibung, die nicht „allein von der Schrift, allein von der Gnade“ und auch nicht „vom Glauben allein“ spricht, sondern die darüber hinaus noch von jeder und jedem Einzelnen unter uns Bewegung und Beweglichkeit, also möglicherweise auch eigene Anstrengung fordert.
Und wenn wir hören, wie betont der jüdische Schriftgelehrte Paulus dabei die verbindliche Sprache der Tora spricht, müssen wir um so mehr stutzen: Das rabbinische Judentum spricht von der Halacha, dem WEG der Tora-Praxis, der verbindlich ist und verbinden will. Die Halacha, als der WEG, den jeder Mensch gehen muss, der die Tora begreifen will, das ist die anstrengende Sinai-Bergtour der Tora, der man sich seelisch, geistig und – womöglich auch – körperlich aussetzen muss. Der weitaus bessere WEG, die Halacha, von der Paulus spricht, ist eben keine Gabe, sondern ein Projekt, eine Anforderung, der ein erwachsener Christ sich stellen muss. Wer diese Liebe erfahren will, soll sich auf diesen WEG begeben, Berg und Wüste Sinai inbegriffen.
Dazu nun eine europäische Bergassoziation aus unseren Kinos: Eine eigenartige Bruderliebe hatte die „Brüder drei auf dem Jakobsweg“ getrieben. Der Jüngste und sensibelste von ihnen schien suicidgefährdet und hatte sich als Eigentherapie den Pilgerweg von Wien nach Santiago di Compostella verordnet. Aus Sorge um ihn beschließen seine beiden Brüder endlich, den ganzen mühsamen Weg mitzuwandern: der eine mit zünftiger Wanderausrüstung, der andere mit seinem schicken Aluminiumkoffer auf Rollen, inklusive aller Kosmetika, die er als Lebemann in der Großstadt gebraucht hat. – Und da sitzen nun die Brüder drei im steinigen Geröll der Pyrenäen; Liebe ist anstrengend; und so ein Pilgerweg der Liebe erst recht. Der Bruder Lebemann kann nicht mehr, will nicht mehr, geht nicht mehr.
Der Kleine – er heißt im zärtlich österreichischen Familienjargon der „Scheisserl“ – geht weiter; der Zünftige folgt ihm; nur der Lebemann zögert. Und erst als die beiden anderen schon ein ganzes Stück weiter gegangen sind, reißt auch der mit dem Rollkoffer sich endlich los. Und dann fliegen da die Fetzen: Necessaire, Schlips, Jackett, lauter überflüssige Utensilien. Und schließlich landet auch noch der schicke Aluminiumkoffer im Geröll. – Niemand kann auf diesem WEG weit kommen, der nicht befreit ist, der nicht bereit ist, sich selbst zu enteignen, einiges, auch ganz Eigenes, wegzuwerfen.
Der WEG der Liebe ist immer auch ein WEG der Selbstenteignung und der Selbstverleugnung. Erst als die Fetzen fliegen, kann der Lebemann wirklich mithalten auf diesem WEG. – Wer hätte das aber gedacht am Anfang des WEGES, dass auch der mehrfach ausgezeichnete und alles Schöne, Süße und Bequeme liebende Chefkoch überhaupt so beweglich werden kann?! – Und wer das mit angesehen hat, wie da der Koffer durch die Pyrenäen wirbelt, spürt geradezu physisch die Befreiung, den Neuanfang, die Kehrtwende im Leben dieses Menschen. Der WEG der Liebe ist hier ein WEG der Befreiung, wirklich ein weit besserer WEG. Das merkt mitten im Geröllfeld auch der Lebemann.
Und so versteht es sich auch von selbst, dass so viele Bekenntnis-, Bekehrungs- und Berufungsgeschichten der Bibel und der Kirchengeschichte genau so gerade unterwegs passieren, auf der Straße, sozusagen en passant:
Abraham unterwegs ins gelobte Land;
Mose unterwegs in die Freiheit;
Ruth und Noemi unterwegs in der Fremde;
Amos auf dem Acker von Thekoa;
Jona mitten auf dem Meer;
die Emmausjünger auf dem Weg nach Jerusalem;
der Kämmerer auf der Straße zwischen Jerusalem und Gaza;
Paulus vor Damaskus;
Luther auf dem Feld bei Stotternheim ... .
Der WEG ist immer ein Ort der Erkenntnis und des Verstehen-Lernens, auch des Sich-selbst-verstehen-Lernens. – Viele depressive Blockaden sind in meiner seelsorgerlichen Erfahrung sogar durch Spaziergänge und durch ambulantes Reden besser in Bewegung gekommen als durch stationäre Therapie. So kann man den WEG der Liebe auch ganz wörtlich verstehen: Machen Sie sich mit traurigen Menschen, mit Enttäuschten, mit Verkrampften auf den Weg, durch den Park, am Rhein entlang oder durch den Stadtwald oder im Bergischen oder in der Eifel, und es könnte sich etwas lösen!
Kein Wunder, dass der erste und älteste Name für die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu einfach hieß „DER WEG“ (Apg. 9,2 u. ö. griechischer Text!). Die ersten Christen verstanden sich anfangs nicht als eine Gemeinde, sie sprachen nicht von sich selbst als von der Kirche, sie nannten sich nicht das Christentum, sondern einfach „DER WEG“. Und kein Wunder, dass sich Jesus selbst einfach als „WEG“ bezeichnet (Joh 14. 6: „Ich bin der Weg“). Und kein Wunder, dass der Rabbiner Leo Baeck in seinem Grundbuch über „Das Wesen des Judentums“ keinen anderen Begriff so häufig benutzt, wie den des WEGES. Und kein Wunder, dass in unserem evangelischen Gesangbuch der „WEG“ eine so häufig besungene Vorstellung ist!
Was ist denn unterwegs, auf dem WEG so anders als in der Stadt, auf dem eigenen Territorium und zwischen den eigenen vier Wänden?
Die Stadt hat Mauern und Tore;
das eigene Haus hat Türen und Schlösser;
der eigene Garten hat Zäune und Grenzen;
und das eigene Land will gesichert und verteidigt werden.
Aber Menschen, die unterwegs sind, haben das alles nicht, haben das alles also auch gar nicht nötig. Unterwegs ohne Gepäck hast du noch nicht einmal die Angst nötig.
Ich habe vor 35 Jahren einmal ein Training für Großstadtpfarrer in London mitgemacht. Ein Teil des Trainings war das dreitägige Überleben in London ohne Unterkunft, ohne Adresse und ohne Geld, nur mit Jacke und Hose bekleidet. Und im Vorlauf hatte ich wochenlang schwere Bedenken und Ängste, auch Ängste um meine eigene Sicherheit in der Nacht auf den Straßen dieser Riesenstadt. – Als es aber am ersten Abend dunkel wurde und als ich durch den Hydepark lief, wollte die Angst wieder hochkommen. Doch da klärte sich für diesen Moment alles wunderbar auf: Angst? Wovor denn? Ich könnte ja jedem alle meine Taschen umkrempeln und zeigen, dass ich nichts habe. Überfall zwecklos! – Armut ist schlimm, da dürfen wir uns nicht missverstehen; aber Nichts-Haben kann im Augenblick auch einmal wunderbar frei machen!
Der jüdische Philosoph Emanuel Levinas führt diesen Gedanken über ins Geopolitische: Es sei auch ein Segen gewesen für das Judentum, dass es als wanderndes Gottesvolk fast 2000 Jahre lang nicht ortsgebunden gewesen sei, frei von eigenem Land, frei von blut- und bodenständiger Heimatliebe: Das Eingepflanztsein in eine Landschaft – so sagt Levinas – führt ja zur Spaltung der Menschheit in Einheimische und in Fremde, in die Anderen da und wir hier. Daraus folgen oft genug Abgrenzung, Ablehnung, Hochmut und Fremdenhass, europapolitisch ausgedrückt in solchen Begriffen wie „Frontex“ und „Festung Europa“ mit all den Toten, die das zur Folge hat im Mittelmeer und anderswo.[2]
Und nun sagt uns Paulus, der beste aller WEGE ist die Liebe, der WEG der Liebe. Ein WEG ohne Grenzen, ohne Mauern und ohne Schlösser. Ein offener Raum, den man weder verteidigen kann, noch verteidigen muss. Ein Ort, an dem man sich nicht auf Dauer niederlassen, zu dem man keine ausschließlichen Gefühle entwickeln, den man nicht zur ausgrenzenden Heimat machen kann; also eigentlich ein Un-Ort. Der Weg der Liebe, die Liebe als Weg, die Halacha des Paulus verlangt Beweglichkeit in Hirn und Herz, Offenheit für Andere, auch Offenheit für dieselben, wenn sie anders werden.
Oft genug ist das natürlich ein steiniger, steiler und anstrengender WEG. Und Zielort und Zeitpunkt der Ankunft sind uns allen noch immer unbekannt.
So gesehen ist alles Romantische am WEG der Liebe längst verflogen. Paulus ist kein Sessel-Romantiker, obwohl kaum jemand so eindrucksvoll von der Liebe gesprochen hat wie er. Aber er spricht eben nicht von einer Liebe, die wir haben, nicht von der Liebe als einer Gabe, sondern von der Liebe als einem WEG. Das UNTERWEGS-SEIN, das noch nicht, vielleicht überhaupt niemals endgültig am Ziel sein, und dennoch verbindlich, zuversichtlich und entschlossen mit den nahen und den fernen Nächsten umgehen, das ist das alles überstrahlende Motiv in seinem Hohen Lied der Liebe.
Und so, in dieser prinzipiellen Unabgeschlossenheit, wird der WEG der Liebe zum Modell unseres Lebens als Christinnen und Christen. Und dieses Modell hat Luther, der großartige Paulusschüler, sehr einprägsam so beschrieben:
„Dass also dieses Leben
nicht ein Frommsein ist, sondern ein Frommwerden,
nicht ein Gesundsein, sondern ein Gesundwerden,
überhaupt kein Sein, sondern ein Werden,
nicht ein Ruhen, sondern ein Üben;
wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber.
Es ist noch nicht getan und noch nicht geschehen,
aber es ist im Gange und im Schwange.
Es ist nicht das Ende, es ist aber der WEG,
es glüht und glänzt noch nicht alles,
aber es reinigt sich alles.“[3]
Amen
[1] Joseph von Eichendorff, Mich brennt’s in meinen Reiseschuh’n, 4. Strophe
[2] E. Levinas, Heidegger, Gagarin und wir, in: E. L., Schwierige Freiheit, Ffm. 19962, S. 173-176
[3] Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, 1521, WA 7, 337, 30ff